Man hat meistens eine genaue Vorstellung davon, wie sein Leben aussehen sollte. Man hat konkrete Wünsche und Pläne. Und oft kommt es so oder ähnlich, wie man es erhofft hat.
Doch wir mussten neu lernen, dass Leben auch ganz anders möglich sein kann. Wir mussten unsere Vorstellungen loslassen und uns auf Neues, Unbekanntes einlassen. Ein schwerer Weg lag vor uns, schwer aus unserer damaligen Sicht.
Vieles wird anders werden auf diesem "Weg", anders als bisher und anders als wir es uns wünschten. Uns darauf einzulassen bedeutete, alte Wege und Wünsche endgültig hinter uns zu lassen. Das Loslassen war sehr schwer und schmerzhaft, aber plötzlich wurde der schwere Weg schon etwas leichter....
Am 17.11.1997 erblickte Sarina, unser erstes Kind, das Licht der Welt. Nach normal verlaufener Schwangerschaft wurde sie durch einen Kaiserschnitt aus ihrer misslichen Fusssteisslage befreit. Alles an Sarina war winzig klein und fein, mitsamt ihrer Stimme - dachten wir...
Vier Tage danach eröffneten uns die Ärzte nicht sehr einfühlsam, dass bei Sarina ein genetischer Defekt vermutet wurde. Das saß wie ein Fausthieb, der uns regelrecht die Luft abdrehte. Was danach kam, war wie ein Alptraum, bei dem man einfach nicht mehr aufwacht. Wir fuhren mit Sarina auf direktem Weg in das Kinderspital, wo sie von Kopf bis Fuß untersucht wurde. Da hörten wir das erste Mal den Namen "Katzenschreisyndrom". Schon der Name ließ uns erschaudern und hinterließ ein merkwürdiges Gefühl. Auf unsere Frage, was das "Katzenschreisyndrom" bedeutet oder besser gesagt, wie sich das auf Sarinas Entwicklung auswirken wird, erhielten wir die die niederschmetternde Antwort: "Die Entwicklung dieser Kinder ist sehr stark verzögert und wir hoffen, dass wir uns in unserer Prognose irren. Die Bluttests werden genaueres sagen."
So warteten wir, zwischen Hoffen und Bangen, drei unendlich lange Wochen auf das Ergebnis. Diese Zeit war der reine Horror. Wir suchten in unseren alten Photoalben nach allen erdenklichen Indizien, die uns die Vermutung der Ärzte widerlegten. - Ich hatte als Kind auch solche "Schlitzaugen" und der runde Kopf kommt bestimmt vom Papa. Na ja und Stress hatte ich auch genug während der Schwangerschaft. Arbeiten, Wohnung suchen, umziehen...., deshalb ist sie vielleicht so klein! So fanden wir für fast jede Auffälligkeit eine Entschuldigung, bis das Ergebnis des Bluttestes von unserer Frauenärztin bekannt gegeben wurde. Obwohl das übermitteln der Testergebnisse einer der schlimmsten Momente dieser Zeit war, man denkt den Boden unter den Füßen zu verlieren, fand die Ärztin erstaunlich einfühlsame Worte dafür.
Was danach folgte, war wie gesagt ein Alptraum. Die Enttäuschung und die Trauer waren im Moment so groß, dass Gefühle wie zum Beispiel Mutterliebe wie weggeblasen waren. Ich funktionierte nur noch irgendwie. Zum Beispiel sassen wir stundenlang auf dem Küchenboden, um Sarina das Fläschchen zu geben. Da sie infolge ihrer Saugschwäche nicht von der Brust trank, wurde die abgepumpte Milch im Fläschchen zugeführt. Die beste Lage für das Trinken war im Babysitter, wo Sarina gut lag und sich darum nicht andauernd verschluckte. Trotzdem dauerte eine Mahlzeit von 80 ml ca. 1 Std. Und da möchte ich Thomas, meinem Mann, ein riesengrosses Kompliment machen. Vom ersten Moment an, als er Sarina im Arm hielt, liebte er sie über alles. Auch die Tatsache "behindert" änderte nichts an seiner Liebe zu unserer Tochter. Er gab ihr in dieser ersten schweren Zeit das Gefühl von Liebe und Geborgenheit, was ich ihr damals nicht ausreichend geben konnte.
Nebst all dem psychischen Stress kam bald die physische Erschöpfung. Sarina schlief höchstens drei Stunden am Stück und das nur, wenn sie in den Schlaf geschaukelt oder gewippt wurde. Sonst hatte sie fast nur geschrieen. Im Auto, im Kinderwagen oder im Supermarkt. Immer dieses auffällige Schreien, das einen nie sein Schicksal vergessen lies.
Mit drei Monaten bekam Sarina einmal in der Woche Physiotherapie, die wir konsequent jeden Tag zu Hause weiter praktizierten. Auch besuchte uns die Früherzieherin einmal pro Woche. Von dieser Zeit an, als ich mit der Förderung konfrontiert wurde und selbst etwas dazutun konnte, besserte sich auch mein seelisches Tief.
Nach einem Jahr verbesserte sich unser aller Zustand. Sarina schrie weniger, schlief besser und wir hatten uns langsam aber sicher an das Leben mit Sarina gewöhnt.
Zur Physiotherapie und Frühförderung gesellten sich noch die Chirophonetik, die Logopädie und das frühförderische Reiten dazu.
Nun ist Sarina drei Jahre alt und es ist bereits schwierig, die erste wirklich schlimme Zeit zu beschreiben, ohne sie zu beschönigen. Wir alle haben Sarina so sehr lieb gewonnen, dass wir uns ein Leben ohne unserem "Müsli" gar nicht mehr vorstellen können. Sie ist ein aufgewecktes Mädchen und sie hat ihren eigenen, sehr starken Willen, der sie immer weiter bringt.
Im Moment bewegt sie sich kriechend fort, steht im Laufstall auf, krabbelt die Treppe rauf, auf das Sofa und wieder runter. Sarina verständigt sich mit Lauten ( Papa, Opa, Dada, Baba, aba, Fii, Nei, Ja, ect. ), Gebärden und Mimik. Sie liebt natürlich Wasser, Ballons, Musik, Bilderbücher und Fernsehen (bei den Teletubbies flippt sie fast aus ) über alles.
Wir versuchen mit Sarina zusammen ein möglichst normales Leben zu führen. Mit unserem Umfeld haben wir bis jetzt wirklich gute Erfahrungen gemacht. Bestimmt gibt es auch die Situation, wo Leute wegschauen oder wir nicht genügend Energie für Erklärungen haben. Doch auch das gehört nun zu unserem Leben. Und wir erinnern uns an die Zeit vor Sarina, als wir noch sehr wenig über Mehrfachbehinderungen wussten und wir stellen fest, dass wir keinen Deut besser waren!
Nun wünschen wir allen neuen Eltern viel Mut für die wahrscheinlich größte Herausforderung Ihres Lebens, und für alle anderen viel Kraft, Liebe und Geduld!
Sarinas Eltern Karin und Thomas (Juli, 2001)
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