Die Geschichte von Clara
Die Schwangerschaft mit Clara begann 1999 in Alexandrien in Ägypten, wo wir gerade für ein viertel Jahr Unterricht in Ägyptisch Arabisch nahmen. Ich sollte eine Pastorenstelle in einem Missionskrankenhaus in Assuan Oberägypten annehmen, für die wir uns seit 1997 vorbereiteten. Im Dezember 1999 kamen wir in Assuan an. Wir, das sind meine Frau Carmen mit den beiden älteren Kinder damals Jonas (6) und Anne May (4) und ich. Trotz Steißlage waren wir relativ zuversichtlich, dass die Geburt gut verlaufen würde. Es war die dritte und außerdem hatte die Ultraschalluntersuchung ergeben, dass ihr Kopf nicht zu groß sei. Die Geburt von Clara fiel in die Zeit unseres Deutschlandaufenthalts, wo sie dann am 14.7.2000 in Wolfsburg zur Welt kam. Auffällig war, dass sie überhaupt nicht schrie, sondern eher wimmerte und der Saugreflex später nur sehr schwach ausgeprägt war. Wieder zurück in Assuan häuften sich die Auffälligkeiten. Es wurde mehr und mehr deutlich, dass mit ihrer Entwicklung etwas nicht stimmte. Meine Frau fuhr daraufhin im Dezember zur Abklärung dieser Fragen mit Clara nach Deutschland. Ich blieb mit den anderen beiden Kindern in Assuan. Wir zogen als halbe Familie ins Gästehaus unserer Station, damit die Kinder auch mal alleine bleiben konnten. In den ägyptischen Schulwinterferien flogen wir dann nach. Am Montag den 15. Januar hatten wir einen Termin bei Dr. Möller im Therapiezentrum ZEUS in Wolfsburg. Dort erfuhren wir, dass Clara das 5p-Syndrom hat: terminale Deletion an der Position 15.1. Das dies auch den Namen Katzenschreisyndrom trägt, war für uns ein Schock. Mehr noch: wir würden jetzt nicht nur mit einem behinderten Kind klarkommen müssen, sondern unser gesamter Lebensweg war plötzlich in Frage gestellt. Dabei waren wir gerade im Vertrauen auf Gott an diese Aufgabe nach Ägypten gegangen und nun diese Enttäuschung!
Unser Informationsbedarf war wie bei allen Eltern am Anfang sehr groß. Wir waren damals sehr dankbar, das wir bei Ute Meierdierks anrufen konnten und sie uns erst mal wichtige Informationen weitergeben konnte. Auch das Gefühl, mit dem Problem nicht alleine da zu stehen, tat uns sehr gut. Jetzt war aber immer noch die Frage: Können wir es verantworten ein solches Kind in einer Region groß zu ziehen in der es keinerlei Therapieangebote gibt? Hin und her gerissen flogen wir am 4. Februar wieder nach Assuan zurück. Wo sollten wir auch sonst hin?
Im Gepäck hatten wir Bücher zum Thema Frühförderung und einen mit Styropor gefüllten Sitzsack der Clara als Stuhl und Turnplatz dienen sollte. Außerdem hatten wir noch einen Heizstrahler dabei, der sie bei den Übungen nach Voijta warm halten würde. Der Februar ist hier relativ kalt (nachts ~10°C). Es gibt in Assuan keine Heizungen. Meine Frau hatte sich von verschiedenen Therapeuten die Methode erklären und mit unserer Tochter üben lassen.
Ich fuhr jeden Vormittag für eine halbe Stunde nach Hause, damit wir gemeinsam die speziellen Turnübungen für Clara durchführen konnten. Dies war nur leider mit viel Geschrei verbunden und das zwei- bis dreimal täglich. Sie machte Fortschritte. Objekte nahm sie viel besser wahr und begann sie auch schon zu greifen. Sie fingt an, sich auf die Seite und auf den Bauch zu drehen. Unsere anfängliche Befürchtung, sie könnte uns diese Behandlung übel nehmen, hatte sich zum Glück nicht bewahrheitet. Sie war danach meistens gut drauf, lachte viel.
Im Frühjahr hatte sich ein junger Physiotherapeut aus Deutschland bereit erklärt uns zu für eine Woche zu besuchen und zu helfen. Wir waren ja darauf angewiesen möglichst viel selbst zu lernen.
Im Mai 2001 konnten wir in eine freie Wohnung auf das Gelände der Mission umziehen. Da wir auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen waren, d.h. 12 Leute quetschen sich auf die Ladefläche eines Toyota Pick-Up, wurde dadurch manches leichter. Die Schule und die Einkaufsmöglichkeiten waren näher. Der größte Vorteil bestand darin, dass wir einen großen Hof hatten und auf dem Gelände viele andere Kinder lebten. Auch die Nähe zum Krankenhaus hatte Vorteile, denn ärztliche Behandlungen durch unseren deutschen Kinderarzt wurden immer öfter notwendig: Lungenentzündung, Platzwunden usw...
Im November hatten wir das Glück, durch Vermittlung eines Freundes einen sehr erfahrenen Physiotherapeuten aus Hildesheim für einen ganzen Monat bei uns zu haben. Jeden Tag konnten wir von ihm Strategien von Bobath lernen und wir begannen uns sicherer im Handling und der ganzen "Therapie" überhaupt zu fühlen.
Die Förderung in der kommenden Zeit bestand hauptsächlich darin, dass wir versuchten mit ihr Alltagprobleme zu lösen. Z. B. Das Trinken. Der Vorteil von Assuan ist, dass bei Temperaturen um 40°C und einer Luftfeuchtigkeit von ca. 20% das Experimentieren mit dem Trinkbecher keine Probleme machte. Clara konnte sich nach Belieben mit Wasser übergießen. Durch den Nil hat Assuan genügend Wasser. Dies bedeutete, dass Clara nach Herzenslust in unserer kleinen Wanne sitzen konnte und öfter am Tag badet. Das Baden wurde auch deshalb notwendig, weil sie eines Tages damit begann, ihren Stuhl aus der Windel zu holen. Diese Angewohnheit hat sie bis heute beibehalten, d.h. sie lässt jetzt wenigstens die Hand dabei solange in der Windel, bis einer von uns sie dann sauber macht.
Clara hat so ihre Lieblingsbeschäftigungen. Da ist ihr kleines Glöckchen, dass nun schon seit über drei Jahren liebend gerne läutet. Sie hört gerne Radio. Sie hält es in der Hand und schaukelt sich dabei. Zwei kleine Weltempfänger hat sie dabei schon ruiniert. Irgendwann hat sie unser Klavier als Beschäftigungsgegenstand entdeckt. Sie schafft es, uns bis zu einer halben Stunde mit diesem Instrument zu unterhalten. Es ist erträglich. Sie spielt vorsichtig und hat in ihrer Art eine gewisse Struktur, so dass man denkt jemand spielt Stücke von John Cage. Sie liebt alle Sorten von Handys. Ihr Spielzeughandy hat uns schon über manche Krise gerettet. Sie liebt Wärme. Im Winter krabbelt sie gerne auf den Balkon und legt sich in die Sonne. Dies ist auch ein Vorteil des Ortes hier. Die Regenwahrscheinlichkeit liegt bei 0%. 5-7 Tage im Jahr sind gerade mal bewölkt.
Clara liebt Kommunikations-, Kniereiter-, Sprech- und Fingerspiele: "Wo ist die Nase?" , "Ja, das ist die Nase!" usw..
In der ganzen Förderung müssen auch unsere beiden älteren Kinder erwähnt werden. Einige der Spiele gucken sie sich bei uns ab und machen sie ebenfalls mit Clara. Manchmal erfinden sie auch Neue oder machen sich Gedanken, wie sie Clara in Schach halten können. Gelegentlich sind unsere Kinder von ihr extrem genervt. Clara zieht sie an den Haaren oder macht das Legospielen unmöglich. Dann fließen auch Tränen. Zwischen Jonas und Clara gab es eine ganze Zeitlang kein Einvernehmen. Immer wenn Clara in die Nähe von Jonas kam, attackierte sie ihn und es kam zum Streit.
Clara regiert sehr stark auf Stimmungen in der Familie. Wir haben bei uns die Gewohnheit den beiden Großen abends vorzulesen. Es gibt für Clara nichts Schöneres als sich dazuzukuscheln und mit zuzuhören, obwohl sie nichts versteht. Sie muss die Atmosphäre oder die Stimme meiner Frau toll finden. Clara liebt Bücher, nicht um etwas zu entdecken, sondern um darin einfach nur zu blättern und wenn möglich: sie anzukauen oder am liebsten aufzuessen. Auch das Gegenteil ist der Fall. Wenn es in der Familie mal laut wird, dann fängt Clara an zu weinen oder wird aggressiv. Ihre Aggressivität und Unzufriedenheit zeigt sie dann (ganz allgemein) dadurch, dass sie ihren Kopf auf etwas drauf schlägt.
Clara schlief und schläft immer noch in unserem Zimmer. In der neuen Wohnung in der wir seit Mai wohnen gibt es jetzt mehr Platz. Das hat vieles entspannt. Sie geht um 20.30 Uhr herum ins Bett und schläft meistens bis 6 Uhr. Wir sind uns nicht ganz sicher, ob sie durchschläft. Wir haben schon oft beobachtet, dass sie sich auch vollkommen ruhig im Bett beschäftigen kann. Meine Frau und ich benutzen öfter auch mal Oropax, um möglichst gut durchschlafen zu können. Claras Bett ist geschlossen. Sie hat aber eine Möglichkeit entdeckt sich durch die Gitterstäbe zu quetschen, was wir tolerieren. Sie krabbelt dann meistens in der Wohnung herum bis sie etwas gefunden hat, mit dem sie sich beschäftigen kann. Manchmal ist es das Klavier oder aber auch die Toilette. Seit dem achten wir verstärkt darauf, dass immer gespült ist.
Clara liebt Spiegel und Schaukeln. Gerade vom Schaukeln kann sie nicht genug bekommen.
Was uns etwas beruhigt, ist die Beobachtung, dass Clara immer wieder selbst aktiv wird. Sie scheint neugierig zu sein bzw. versucht ihre Spielräume selbst zu erweitern. Wir werden nie vergessen, wie sie sich in diesem Sommer immer wieder versuchte allein aufzustellen und dies dann plötzlich auch schaffte. Wir haben dann bei jedem Versuch applaudiert, wobei sie dann immer total aus dem Häuschen geriet. Seit 2003 trägt sie feste Orthesen, die immer wieder neu angepasst werden müssen, wenn der Fuß wächst. Das hat ihr Laufen sehr verbessert.
Nach einem sehr schweren ersten und zweiten Jahr geht es uns jetzt sehr gut. Wir haben diesmal Kurzzeitmitarbeiter bei uns, die sich stundenweise um Clara kümmern. Wir müssen auch nicht mehr umziehen und haben das Gefühl endlich angekommen zu sein. Seit zwei Jahren haben wir eine ägyptische Haushaltshilfe, der wir vertrauen können. Wir sind heute Gott für Clara sehr dankbar, weil sie unser Leben positiv verändert hat. Wir sehen die Welt oft mit ihren Augen, d.h. auf das, was wirklich zählt: die Beziehung untereinander, die nicht bestimmt ist durch Leistung und Karrierestreben.
Gefreut haben wir uns auch, dass es diesen Sommer zum ersten Mal möglich war an dem Treffen in Olpe teilzunehmen, wo wir einen sehr positiven Eindruck der Arbeit des Vereins bekommen haben und spürten, wie wichtig der Austausch und Information zu diesem Thema für die Kinder und uns selbst ist.
Claras Vater Thomas (Herbst 2004)
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