Lara wird nicht mehr sondiert
Ein kleiner Pinguin hat seine kleinen Flügelchen wie zum Flug ausgebreitet und steht zum Start bereit am Rande einer kleinen Eisscholle. Das Ziel seines waghalsigen Absprungs - denn jeder weiß ja, dass Pinguine nicht fliegen können - ist eine andere kleine Eisscholle im blauen Eismeer. Für den Betrachter scheint sie unerreichbar weit, doch der Pinguin scheint davon überzeugt zu sein, dass er sein Ziel erreichen wird. Darüber steht: „Auf zu neuen Ufern!“ Diese kleine Postkarte hängt seit Juni diesen Jahres bei Lara im Zimmer über ihrem Bett. Eine Freundin hat sie uns geschickt, der ich von meinen Ängsten erzählt habe, als Lara sich den Button endgültig gezogen hatte.
Dazu muß man folgendes wissen: Lara, geboren 1994, wurde von Anfang an sondiert. Und dann, mit 10 Jahren legte sie den Schalter um, ließ sich mit breiiger Nahrung füttern und hatte einfach nur noch Spaß am Essen. Was hatten wir nicht alles in den Jahren davor ausprobiert …. und auf einmal ging`s! Allerdings wurde dann das Trinken, das schon so leidlich klappte, von Lara zur Nebensache erklärt. Deshalb war ich auch immer noch so froh über den Button in ihrem Bauch, über den sie ausreichend mit Flüssigkeit versorgt werden konnte. In die Nahrung gaben wir Leinsamen und so stellte sich der Stuhlgang von selbst ein, wir brauchten nicht mehr die quälende Prozedur des Abführens mit Praktoklist auf uns nehmen. Alles war wunderbar - jedenfalls in meinen Augen. So hätte es ruhig noch weiter gehen können. Mein Kind hatte Spaß am Essen, es bekam genügend Flüssigkeit und wenn sie mal krank wurde, war das Geben der Medizin kein Problem, denn wir konnten dieses ja über den Button tun.
Nur sah das meine Tochter, inzwischen süße zwölf Jahre alt, etwas anders. Sie konnte ihre Finger einfach nicht von dem kleinen Knopf in ihrem Bauch lassen! Immer häufiger zog sie sich den Button selbst. Vor allem in der Nacht wenn sie wach war. Und ich erlebte dann immer am Morgen eine böse Überraschung !!! Das Löchlein im Bauch war fast zu gegangen und es war ein regelrechter Gewaltakt für uns beide, den Button wieder zu setzen. Keine Tricks halfen (Button mit Pflaster verkleben, einen Body anziehen, Schlaganzug darüber auch noch einmal mit Leukoplast festkleben, dass sie ihn nicht ausziehen konnte), ständig zog sie sich den Button. Und ich war bald mit den Nerven am Ende.
An diesem besonderen Wochenende im Juni trieb sie dann das Ganze auf die Spitze, indem sie sich den Button …ich weiß gar nicht mehr wie oft… zog. Ich war am Ende meiner Kraft und ließ es dann nachts einfach geschehen, stand nicht auf, als ich hörte dass sie wieder wach war und dachte nur: „Mach doch was du willst.“ Und das machte sie auch! Am nächsten Morgen fand ich sie zufrieden schlafend um 5.30 Uhr in ihrem Bett ohne Button und das Loch war fast zu. Da hab ich erst mal geheult, mich an`s Telefon gesetzt und eine gute Freundin aus dem Bett geklingelt (sie war Kinderkrankenschwester im Kinderheim, wo Lara vier Jahre gelebt hat). Die hat mich dann erst mal beruhigt, indem sie mir alle Möglichkeiten aufgezählt hat, wie man im Notfall in dieses Kind Flüssigkeit rein bekäme. Und dann kam der entscheidende Satz: „Wir kennen doch Lara - wenn die sich was in den Kopf gesetzt hat kann man sie davon nur schwer oder gar nicht abbringen. Also müssen wir ihre Entscheidung akzeptieren!“
Mir fiel das gar nicht leicht! Zu meiner eigenen Beruhigung verbrachten wir den Nachmittag dann erst einmal im Schwimmbad und so wie ich es erwartet hatte… meine Tochter schluckte ordentlich viel Wasser und ich dachte nur: „Hauptsache rein!“ Es kamen im Laufe der Zeit noch ein paar Tiefschläge, denn Lara trank ja nicht auf Kommando. Aber inzwischen haben wir beide die neue kleine Eisscholle erreicht. Die alte Eisscholle, die mir so sicher erschien, liegt nun auch schon lange hinter uns und wir fühlen uns beide wohl dabei! Ich bin froh, dass meine Tochter den Absprung gewagt hat und ich mit gesprungen bin. Auf zu neuen Ufern! Ich bin gespannt, was da noch alles auf uns zukommt!
Laras Mutter Petra (April 2007)
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