Als ich gefragt wurde, ob ich einen Artikel über 5p-minus-Geschwisterkinder schreiben wollte, habe ich erst mal gezögert, denn so richtig weiß ich nicht, was ihr von mir hören wollt. Dann habe ich das gemacht, was absolut jeder im 21. Jahrhundert tut: Ich habe die Sache einfach mal gegoogelt. “Geschwister von Behinderten” ist schließlich ein Thema, über das sich schon viele Leute ausgelassen haben. Da findet man dann die positiven Berichte, die uns Geschwisterkindern eine überdurchschnittliche soziale Kompetenz attestieren. Aber auch negative Stimmen kommen zu Wort, die über unser schweres Los klagen und unseren angeblichen Mangel an elterlicher Aufmerksamkeit zum Thema machen.

Bevor ich nun fortfahre, möchte ich deshalb eine Sache vorneweg bemerken, denn das ist mir wichtig: Ich habe meine Schwester niemals als eine Last empfunden!

Was wäre denn, wenn ich keine behinderte Schwester gehabt hätte? Das ist die Frage, die in diesem Kontext gerne gestellt wird. Hätte ich mich anders entwickelt, würde mich besser oder schlechter fühlen? Richtig Sinn macht diese Fragestellung natürlich nicht. Denn meine Schwester ist und war Teil meines Lebens, natürlich hat sie meine Persönlichkeit mit geprägt. Ohne Anna wäre ich heute eine ganz andere Person.

Ich erinnere mich nicht an Annas Geburt, nicht an die Diagnose ihrer Behinderung und auch nicht an die (vermutlich) schwere Zeit, die meine Eltern danach durchgemacht haben. Ich war damals gerade mal zwei Jahre alt, und meine bewusste Erinnerung reicht nicht so weit zurück. Für mich war meine Schwester mein ganzes Leben lang einfach nur da, und eben so, wie sie nun mal ist. Ich wusste allerdings früh, dass sie anders war als die kleinen Schwestern meiner Freunde. Ich war ja auch bei den ganzen Therapien, die es am Anfang gab, mit dabei und mir war bewusst, dass das keine Standardprozedur bei kleinen Kindern war. Meine Mutter sagt, ich habe das alles so genossen, dass ich irgendwann von den Therapeuten als unerwünscht diagnostiziert wurde…

Soweit ich mich zurück erinnern kann, schien es immer zwei Erklärungsmodelle für die Andersartigkeit meiner Schwester zu geben. Das eine stammte mit Sicherheit von meinem Vater, ich nenne es mal “das wissenschaftliche Modell”. Es beinhaltete Chromosomen, denen ein Beinchen fehlte und die bestimmen, wie ein Baby so wird. Das habe ich damals zwar nicht wirklich verstanden, aber es war eine wunderbar erwachsene Erklärung, die mir gefiel. Zum anderen gab es die Erklärung meiner Mutter: der liebe Gott hat mit der Anna einfach mal etwas Besonderes gemacht. Beide Erklärungen liefen im Endeffekt auf das Gleiche hinaus: Meine Schwester ist so, wie sie nun mal eben ist, nämlich einzigartig. Und ich war stolz auf sie!

Als ich klein war, war Anna weniger eine Spielgefährtin für mich, als ein Spielzeug. Eine Art von Puppe, meine ganz persönliche Sonderanfertigung, mit der ich machen konnte, was immer ich wollte. Immerhin war sie nicht gerade in einer guten Position, um sich zu wehren. Ein Beispiel: als ich gerade in die Schule gekommen war, war eines meiner Lieblingsspiele das Nachstellen des Unterrichts, mit mir in der Rolle der Lehrerin und Anna als (reichlich unwillige) Besetzung des Schülerparts. Ich zwang sie, sich auf einen Stuhl zu setzen, um Bilder zu malen und Schreibübungen zu machen. Meine Mutter behauptet heute noch, dass dieses Spiel der Auslöser für Annas lebhafte Abneigung gegenüber jedweder Art an Malerei und Bastelei ist und sie außerdem dabei gelernt hat, sich jedweden erzieherischen Anforderungen elegant zu entziehen. Später wurde ich dann eine richtige große Schwester für Anna, vielleicht fast so eine Art Ersatzmutter, allerdings in untergeordneter Position, denn ich entwickelte mich normal während meine Schwester irgendwie klein und hilfsbedürftig blieb.

Obwohl auch heute die Fähigkeiten meiner Schwester, bewertet nach irgendwelchen Entwicklungstabellen, geringer sind als die einer durchschnittlichen Zwei- bis Dreijährigen, kann ich nicht behaupten, dass sie sich nicht auch entwickelt hat. Wie ich, ist auch sie erwachsen geworden. So hat sie durchaus gelernt, eine eigene Meinung zu haben und ihre Wünsche und Bedürfnisse zumindest teilweise zu kommunizieren. Meine Schwester kann nicht sprechen, und trotz jahrelangem Unterricht in unterstützter Kommunikation und Gebärdensprache, in denen sie relativ wenig gelernt hat (wie gesagt, meine Schwester kann manchmal reichlich bildungsresistent sein), hat sie wenig Möglichkeiten ihre Wünsche zu äußern. Es bedarf einiges an Einfühlungsvermögen, um meine Schwester zu verstehen. Doch wenn meine Schwester eine Sache gelernt hat, dann ist es diejenigen Menschen zu finden, die sie verstehen können. Das ist Annas große Gabe. Und das ist auch der Grund, warum ich zuversichtlich bin, dass sie auch in der Zukunft selber gut zurecht kommen kann. Wir leben beide nicht mehr bei unseren Eltern. Ich ging zum studieren in eine andere Stadt. Anna wohnt jetzt in einer Wohngruppe in einem Behindertenheim. Wir treffen uns nur noch gelegentlich bei unseren Eltern. Ich denke, dass es ihr in ihrer Wohngruppe gut geht, und das macht mich froh.

Ich würde gerne behaupten, dass zwischen uns immer noch alles so sei, wie früher, aber das stimmt so nicht. Im Gegensatz zu mir kommt sie regelmäßig mindestens alle zwei Wochen zu unseren Eltern. Wenn ich – viel seltener – auch da bin, freut sie sich zwar riesig, wenn sie mich sieht, aber sie behandelt mich ganz klar nur noch als eine “Besucherin”, was ja auch der Wahrheit entspricht. Hin und wieder versuche ich mit ihr über ein Bildtelefon (Skype, bzw. Facetime) in Kontakt zu kommen. Da sie nicht reden kann, ist klassisches telefonieren nämlich irgendwie witzlos. Ich singe ihr dann was vor, oder spiele “Guguck” mit ihr. Der Erfolg ist eher mäßig, Anna kann wenig damitanfangen. Ihr bekannte Menschen haben entweder auch körperlich anwesend zu sein wenn sie von ihr etwas wollen, oder sie sind uninteressant. Das ist nun also der Stand der Dinge. Meine Schwester und ich, wir sind nun beide Mitte zwanzig. Anna hat sich gut in ihr neues Zuhause eingelebt, ich habe mein Studium abgeschlossen. Ich habe mich im übrigen nicht, wie angeblich für Geschwisterkinder üblich, für einen sozialen Beruf entschieden, sondern bin Mathematikerin geworden. Momentan sind wir also ganz zufrieden mit unserem Leben.

Unsere Zukunft ist da schon eine ganz andere Sache. Momentan kümmern sich noch immer meine Eltern um Anna. Nicht immer läuft alles rund in der Einrichtung und meine Schwester ist nicht wirklich in einer Position, für sich selber einzutreten. Momentan ist es vor allem meine Mutter, die es merkt, wenn meiner Schwester etwas fehlt, und die dann nicht ruht, bis eine Lösung gefunden ist. Ich weiß, dass dies einiges an Einfühlungsvermögen, Nerven und Aufwand bedeutet und gelegentlich beschleicht mich das Gefühl, dass dies für mich in – hoffentlich weit entfernter Zukunft – gar nicht so einfach werden wird. Meine Eltern wünschen sich mich als Nachfolger, d.h. als spätere Betreuerin meiner Schwester. Manchmal habe ich deswegen “ein ungutes Gefühl”. Ich kann nicht sagen, wohin, in welche Stadt und in welches Land es mich letztlich verschlagen wird, wie viel Zeit und Energie ich haben werde, für das Wohlergehen meiner Schwester zu sorgen. Auf der anderen Seite denke ich allerdings auch, dass sich alles regeln lässt, wenn es notwendig ist und nicht vorher. Das ist eine Sache die ich von meiner Schwester gelernt habe: Manchmal muss man das Leben so nehmen, wie es ist. Und dann wird das eben schon werden. Annas Behinderung war für mich nie eine Last und sie belastet mich auch heute nicht.

Zum Schluss würde ich gerne noch etwas an euch Eltern behinderter Kinder sagen: Macht euch nicht allzu viel Gedanken um uns Geschwisterkinder. Vielleicht ist unser Leben nicht genauso, wie es ohne behinderte Schwestern und Brüder verlaufen wäre, aber das tut nichts zur Sache. Wir kommen schon klar mit den besonderen Eigenschaften unserer Geschwister und unserem eigenen Leben.