Schnell erklärt: 5p-minus-Syndrom
Das 5p-minus-Syndrom ist selten. Geschätzt wird, dass es bei einer von 50.000 Geburten vorkommt. Nachgewiesen wird das Syndrom durch eine Chromosomenuntersuchung, bei welcher der Verlust eines Teils des kurzen Arms von einem der Chromosomen 5 festgestellt wird. Die Größe des Verlusts sagt nichts über die geistige und körperliche Entwicklung des Kindes aus. In den meisten Fällen ist der Verlust spontan entstanden. Nur in 10 bis 15 Prozent liegt bei einem Elternteil eine so genannte Chromosomentranslokation vor. Dies bedeutet, dass bei der Mutter oder dem Vater ein Teil des fünften Chromosoms abgetrennt und an einem anderen Chromosom angehängt wurde. Insbesondere im Hinblick auf einen weiteren Kinderwunsch kann eine Chromosomenuntersuchung Klarheit bringen, ob eine Translokation vorliegt. Falls nicht, besteht kein erhöhtes Wiederholungsrisiko für weitere Kinder.
Ein Syndrom ist ein medizinischer (oder psychologischer) Fachausdruck, der charakteristische Symptome, Auffälligkeiten oder Krankheitsanzeichen einer Gruppe von betroffenen Menschen beschreibt. Es ist dabei zu vermuten, dass diese Auffälligkeiten die gleiche Ursache haben.
Ein solches Syndrom ist das 5p-minus-Syndrom. Der französische Genetiker Jérôme Léjeune war der Erste, der 1963 dem Syndrom den Namen Cri-du-Chat Syndrom gab. Seine Erstbeschreibung des 5p-minus-Syndroms nennt die Schlüsselsymptome wie: kleine Körpergröße, langsames Wachstum, Mikrozephalie, erhebliche Verzögerungen der motorischen, sprachlichen und geistigen Entwicklung und das Schreien der Neugeborenen und Kleinkinder, das wie das einer Katze klingt. Léjeune stellte bei der zytogenetischen Untersuchung seines Patienten fest, dass auf einem der beiden Chromosomen 5 der äußere (distale) Teil vom kurzen Arm fehlte (partielle Deletion 5p).
Das Syndrom ist selten, geschätzt wird, dass ca. eins von 50.000 aller neugeborenen Kinder davon betroffen ist. Die Häufigkeit und das Erscheinungsbild sind weltweit bei allen untersuchten ethnischen Gruppen gleich. Vermutlich haben doppelt so viele Mädchen wie Jungen dieses Syndrom. Die Ursache hierfür ist nicht bekannt.
Es gibt keine Belege, dass das Alter der Eltern, Umwelteinwirkungen vor der Zeugung oder während der Schwangerschaft einen Einfluss auf die Entstehung und die Häufigkeit haben. Bislang ist wenig bekannt über die Entwicklung und die Fähigkeiten der betroffenen Menschen über das Kindesalter hinaus. Insbesondere über das späte Erwachsenenalter liegen nur Einzelberichte vor. Eine systematische Untersuchung gibt es bislang nicht. Es gibt jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass Menschen mit dem 5p-minus-Syndrom eine wesentlich geringere Lebenserwartung haben.
Dem 5p-minus-Syndrom gemeinsam ist der Verlust (Deletion) eines Teils des kurzen Arms (als “p-Arm” bezeichnet, p steht für französisch petit, klein) des Chromosoms 5. Die Deletion umfasst meist das Endstück (terminal) und ist unterschiedlich groß. In ca. 4% der Fälle fehlt nur innerhalb (interstitiell) des p-Armes ein kleines Stück. Das fehlende Chromosomenstück, ob terminal oder interstitiell, kann so klein sein, dass es im Lichtmikroskop nicht zu sehen ist und erst durch spezielle Methoden (molekularzytogenetische Sonden, Fluoreszens-insitu-Hybridisierung, FISH) gezeigt werden kann. Andererseits kann auch nahezu der ganze p-Arm fehlen. In den meisten Fällen ist die Deletion neu (de novo) ab der Eizelle (ab ovo) entstanden. Die Eltern haben also meist einen normalen Chromosomensatz (Karyotyp).
Die Deletion kann auch im Rahmen einer Chromosomentranslokation entstanden und vererbt worden sein. Bei ungefähr jedem 800. Menschen in der Bevölkerung liegt eine balancierte Chromosomentranslokation vor. Man versteht darunter, dass Stücke von unterschiedlichen Chromosomen wechselseitig ausgetauscht sind. Die Menge des genetischen Materials ist dabei unverändert (balanciert). Je nachdem wie dieser umgebaute Chromosomensatz (in der Meiose) auf die Samen- oder Eizellen verteilt wird, kann es auch zum Verlust und/oder Zugewinn von Chromosomenmaterial kommen. Ist nun ein Chromosom 5 an der Translokation beteiligt und betrifft der Verlust den kurzen Arm von Chromosom 5, so entwickelt sich, wie bei jeder Deletion an dieser Stelle, ein 5p-minus-Syndrom. Meist entsteht die unbalancierte Chromosomentranslokation spontan beim Kind. Nur in 10 bis 15% wird sie von einem Elternteil, der selbst unauffälliger, balancierter Translokationsträger ist, vererbt. In diesem Fall besteht ein Wiederholungsrisiko für weitere betroffene Kinder. Die balancierte Translokation kann aber auch über mehrere Generationen hinweg balanciert weitergegeben werden. Sie wird also erst dann bemerkt, wenn sie „unbalanciert“ zu einer Deletion des kurzen Armes von Chromosom 5 führt.
Das Risiko ein behindertes Kind z.B. mit einem 5p-minus Syndrom zu bekommen ist übrigens für einen unauffälligen Träger einer balancierten Chromosomentranslokation nur gering erhöht. Pränatale Untersuchungen ergaben ein Zusatzrisiko von max. 10%. Dies hängt damit zusammen, dass unbalancierte Chromosomentranslokationen häufig zu sehr frühen und daher unbemerkten Aborten führen.
Mosaikformen kommen ebenfalls vor. Betroffene besitzen hierbei sowohl normale Zellen wie auch Zellen mit einer Chromosomenaberration – hier also einer Deletion 5p. Des weiteren kommen Ringchromosomen 5 vor. Ringchromosomen entstehen, wenn nach Brüchen an beiden Chromosomenenden, der kurze Arm und der lange Arm zu einem Ring verschmelzen. Entsprechend führt auch hier die partielle Deletion vom kurzen Arm des Chromosoms 5 zum 5p-minus-Syndrom.
Durch die Untersuchung von Probanden mit jeweils sehr kleinen interstitiellen Stückverlusten konnte eine sogenannte “kritische Region” (Cri-du-Chat chromosomal critical region, CDCCR) gezeigt werden, deren Fehlen mindestens notwendig ist, um alle klinischen Aspekte des Syndroms zu realisieren. Die Feinkartierung erlaubt sogar das auffällige Schreien mit der hohen Stimmlage mit der Chromosomensubbande 5p15.3 und die äußeren Auffälligkeiten auf der Subbande 5p15.2 zu assoziieren. Bislang konnten zwei Gene, Semaphorin F (SEMAF) und d-Katenin (Catenin delta 2, CTNND2) in der kritischen Region lokalisiert werden, die bei der Gehirnentwicklung eine Rolle spielen. Das Fehlen des Telomerase Reverse Transkriptase Gens (TERT) in 5p15.33 wird ebenfalls mit den syndromtypischen Auffälligkeiten in Verbindung gebracht. Deletionen, die diese beiden Regionen nicht betreffen, gehen i.d.R. mit einer geistigen Behinderung einher, zeigen aber nicht die 5p-minus typischen Symptome. Während kleine interstitielle Deletionen durchaus einen Zusammenhang zwischen klinischer Ausprägung (Phänotyp) und ihrer Bandenlokalisation erlauben, so scheint – entgegen derErwartung – die Gesamtgröße der Deletion für die sehr unterschiedlichen Ausprägung der Symptome keine große Rolle zu spielen. Sobald der Verlust die kritische Chromosomenregion umfasst, zeigt sich der typische Phänotyp des Syndroms. Menschen mit kleiner Deletion können durchaus schwerer betroffen sein und umgekehrt. Vermutlich hat das intakte andere (homologe) Chromosom 5 (und der Rest des Genoms) einen starken Einfluss auf diese phänotypische Variabilität.
Die klinische Diagnose 5p-minus-Syndrom wird also durch die zytogenetische Untersuchung mit dem Befund einer (partiellen) Deletion des kurzen Arms eines Chromosoms 5 bestätigt. Beruht diese Deletion auf einer unbalancierten Chromosomentranslokation, so kann bei den Eltern untersucht werden, ob sie mögliche balancierte Träger dieser Translokation sind. Ist bei einem Elternteil eine solche Translokation nachgewiesen, so besteht ein Wiederholungsrisiko für ein Kind mit einem 5p-minus-Syndrom. Wenn gewünscht, kann dies im Rahmen einer vorgeburtlichen Untersuchung abgeklärt werden. Ansprechpartner hierfür sind Humangenetische Beratungsstellen. Findet sich bei den Eltern keine Chromosomentranslokation, so ist das Wiederholungsrisiko nicht über das allgemeine Bevölkerungsrisiko von ca. 1 : 50.000 erhöht.