Nicht nur Wirbelsturm "Kyrill" stellte bei uns alles auf den Kopf
Hallo, ich bin die Emily Marie-Angella und möchte euch von mir erzählen. Nicht nur der Sturm Kyrill war für meine Eltern ein Erlebnis, nein, auch meine Geburt am 18. Januar 2007 hielt sie in Atem, denn ich kam schnell wie ein Wirbelwind zur Welt. Vier Stunden brauchte ich nur. Die Hebamme fing mich auf und musste gleich schnell handeln, denn meine Nabelschnur hatte sich zwei Mal um meine Füße und meinen Hals geschlungen. Ich war sehr blau, bekam keine Luft mehr und musste sofort mit Sauerstoff versorgt werden.
Als Mama mich dann in meinem Wärmebett sah, hab’ ihr Herz wie im Sturm erobert. Papa hat mich gebadet und wusste gar nicht, wie er das anstellen sollte. Ich war nämlich so klein und hatte Klump- und Sichelfüße. Daher konnte man mich auch nicht gut messen, aber es wurde geschätzt, dass ich ungefähr 46 cm groß war. Dabei wog ich 2.510 Gramm und mein Kopf hatte einen Umfang von 31 Zentimetern. Meine tolle, volle, rötlich braune Mähne war zum Köpfe verdrehen!
Den von meinem Bruder Lukas habe ich sofort verdreht. Als er mich sah, strahlte er und bekam Tränen in die Augen. Dann hat er mir versprochen, immer auf mich aufzupassen und falls mal einer was gegen meine Füße sagen sollte, "dem hau’ ich in die Fresse!"
Schon bei der U1 meinte der Doktor, dass bei mir etwas sein könnte – ich habe nicht gut getrunken, und dann dieses Weinen wie bei einem Kätzchen. Er hat mir Blut abgenommen und nun begannen zwei Wochen unerträglicher Ungewissheit, für meine Eltern, besonders für Mama. Einen Abend vor ihrem Geburtstag bestätigte sich der Verdacht, und als der Arzt uns das sagte, liefen ihm die Tränen aus den Augen. Mama nahm seine Hand und fragte, ob sie ihn trösten sollte. Ihr selbst gab es zwar einen Stich ins Herz, aber die Ungewissheit war weg und sie konnte die Sache nun ganz anders anpacken. Papa hat in diesem Augenblick nur gedacht: "Ich werde sie alle nie im Stich lassen!"
Meine Beine waren schon seit dem vierten Tag nach der Geburt eingegipst, um für die Operation alles in die richtige Richtung zu bringen. Zu dem häufigen Wechseln der Gipse in der Orthopädie in Dortmund hat uns eine Freundin der Oma gefahren. Mein Kardiologe hier in Lüdenscheid hatte schon mit anderen Kindern mit Katzenschrei-Syndrom gearbeitet. Vor und nach den Operationen hat er mich genauestens untersucht und gesagt, es sei alles in Ordnung, ich könne sehr alt werden. Auch wenn sich die Löcher in der Herzscheidewand später geschlossen haben als bei anderen Kindern, habe ich keinen Herzfehler. Davor hatten meine Eltern die größte Angst, denn mein Papa hat einen angeborenen Herzfehler und weiß, was das bedeutet.
Am 11. März war der große Tag, an dem ich getauft wurde. Spätestens jetzt haben mich alle in unserer Neuapostolischen Gemeinde ins Herz geschlossen. Mein Taufkleid hat meine Oma selbst genäht und mit einer riesigen rosa Schleife extra für mich aufgemotzt. Alle in unserer Gemeinde schließen mich in ihre Gebete ein, und beim Gottesdienst bildet sich immer eine Traube um mich, weil alle wissen wollen, wie es mir geht. Wenn aber mein Opa kommt und mich auf den Arm nimmt, hat keiner mehr eine Chance, noch nicht mal Mama.
Im Juni 2007 wurde mein erster Fuß operiert. Weil ich dafür in Narkose versetzt werden musste, meinte mein Doktor, da könne man bei der Gelegenheit auch gleich eine Kehlkopfspiegelung machen und einen Hörtest. Das Absaugen der Ohren vorher war totaler Mist, und zum Glück war eine ambulante Krankenschwester dabei, denn Mama konnte gar nicht hinschauen. Ihre Hilfe hatten wir vorher mit viel Kampf von der Krankenkasse genehmigt bekommen. Dann musste ich noch geröntgt werden und war am Abend vor der OP total fertig. Als die am nächsten Tag vorbei war, ging es mir gar nicht gut, denn ich habe die Narkose nicht gut vertragen: Herz, Atmung, Sauerstoff im Blut, alle Werte waren auf das Lebensminimum gesunken. Weil der Säuren-Basen-Haushalt durcheinander war, war mein ganzer Körper rotblau und wie aufgeschwemmt. Mama hat geweint, als sie mich sah und in dem Moment nicht geglaubt, dass ich das überleben würde.
Am nächsten Morgen ging es mir aber ganz gut, und obwohl ich inhalieren musste, durfte ich schon zu Mama aufs Zimmer. Dann hatte ich noch mal ganz viel Stress, weil das andere Kind im Zimmer so viel geschrieen hat und dann wegen der starken Schwellung auch noch mein Gips aufgesägt werden musste. Meine Bronchien haben sich so zugesetzt, dass ich an dem Schleim fast erstickt wäre. Mama hat immer wieder meinen Namen geschrieen, als ich blau anlief, und das hörte eine Krankenschwester. Auf der Intensivstation wurden meine Lungen abgesaugt, und zwei Tage lang war es noch richtig anstrengend. Hätte die Schwester aber in dem Moment nicht sofort reagiert, wäre ich heute nicht mehr am Leben. Mama war total fertig. Und ich hatte bei der ganzen Aufregung erstmal vergessen, wie man mit dem Löffel ist.
Von der Flaschennahrung kriegte ich dann Durchfall. So schlimm, dass ich ein Einzelzimmer bekam, dadurch aber auch endlich wieder Ruhe. Mama kam auch wieder zu sich, und nach ein paar Tagen durfte ich unter ambulanter Betreuung nach Hause. Die erste OP hatten wir geschafft!
Die zweite Operation kam dann erst ein Jahr später, weil ich immer krank wurde, wenn ich mitbekam, dass Mama dafür einen Termin ausgemacht hatte. Sie und die Schwestern waren mit Monitoring, Sauerstoff, Ambubeutel, Absaugen und Päppeln ganz gut beschäftigt. Nebenbei sollte das Leben so normal wie möglich laufen, und dazu gehörten auch die Physiotherapietermine und die Kontrollen in der Orthopädie. Dann hatte ich auch noch komische Zuckungen, deren Grund man nie herausgefunden hat, und irgendwann waren sie zum Glück einfach weg. Dann genehmigte die Kassen die Krankenschwestern nicht mehr. Zunächst kam noch die Lebenshilfe zu uns, aber dann war Mama so gut angelernt, dass sie mich allein pflegen konnte. Ich kann jetzt schon viel und versuche sogar sprechen zu lernen. Essen mit dem Löffel habe ich auch wieder drauf. Trinken finde ich trotz Logopädie immer noch nicht so toll, außer wenn ich gut drauf bin oder bei Oma und Opa mal aus dem Glas.
Im April 2008 wurden schließlich mein anderer Fuß operiert, das verlief besser als beim ersten. Ich war viel stabiler, und Mama hat diesmal die Krankenschwestern angelernt, damit sie uns assistieren konnten. Was für ein Erfolg für uns! Selbst der Chefarzt gab uns ein verdammt dickes Lob! Weil alles lief wie geschmiert, durften wir bald nach Hause. Alle Sorgen, Ängste und Nöte lagen hinter uns und waren mit Bravour überstanden. Alle hatten ja auch an uns gedacht und für uns gebetet, wofür wir bis heute dankbar sind.
Ich trage seither Schienen an den Beinen, damit meine Füße gerade bleiben. Ich entwickle mich richtig gut und gehe meinen eigenen Weg. Ich übe fleißig sprechen, rolle mich in meinem Spielzeug herum will gerne so sitzen, wie mir mein Bruder das beigebracht hat. Mit Mamas Hilfe versuche ich auch zu stehen. Einmal in der Woche kommt jetzt eine Helferin von der Lebenshilfe für fünf bis sechs Stunden. Sie macht Quatsch mit mir, turnt mit mir oder badet mich und hilft Mama, wo sie nur kann, damit sie auch mal wieder Zeit für sich hat. Dann kann sie mal allein in die Stadt gehen oder einkaufen.
Meine Mama hatte es übrigens abgelehnt, als ihr der Frauenarzt in der Schwangerschaft vorgeschlagen hat, eine Fruchtwasseruntersuchung zu machen. Sie hat gesagt: ""Egal wie es kommt, ich nehme das Kind genau so an!". Und das hat sie ja auch getan. Auch wenn man meine Behinderung vorher schon festgestellt hätte, hätte sie mich niemals abgetrieben.Denn: Als Mama 20 Jahre alt war, hat man ihr nach einer Unterleibsoperation gesagt, dass sie keine Kinder bekommen könnte. Darunter hat sie sehr gelitten, aber Papa und sie haben nicht aufgegeben. Als es dann erstmal lange nicht klappte, wollten sie ein behindertes Kind adoptieren, denn die brauchen ja schließlich besonders viel Liebe. Dann hat sich aber erstmal mein Bruder Lukas angemeldet! Dass ich dann auch noch auf natürlichem Weg kommen sollte, hätten sie sich nie träumen lassen. Meine Mama hat gelernt, den Alltag mit all den Schwierigkeiten und Geräten und Krankheiten zu meistern, ohne selbst auf der Strecke zu bleiben. Toll, dass Papa und ihre Eltern ihr dabei so helfen und mein großer Bruder Lukas auch ganz oft bei Papas Eltern sein kann. Der ist ja auch erst zehn Jahre alt und braucht noch eine Menge Aufmerksamkeit. Er hat wirklich ein liebes Herz!
So, jetzt habe ich wohl erstmal genug erzählt. Das setze ich dann bei Gelegenheit mal fort! Viele Grüße (auch von meiner Mama Anja), eure Emi
für Emily von ihrer Mama Anja (Juli 2009)
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