Alter zum Zeitpunkt des Briefes: 
23.0 Jahre

Sarahs Auszug aus dem Elternhaus

Dass dieser Schritt irgendwann auf uns zukommen wird, war mir immer klar. Es dann aber tatsächlich zu vollziehen ist eine ganz andere Sache. Man findet tausend Entschuldigungen, weshalb es dann doch besser ist, damit noch zu warten.

Alles fing mit dem Auszug der gleichaltrigen Schwester an: Es kamen keine jungen Leute mehr zu uns ins Haus, das Telefon läutete kaum noch, der Freund ihrer Schwester blieb aus usw. Da meine Töchter ein gemeinsames Zimmer bewohnten, konnte Sarah an allen Geschehnissen teilnehmen - was sie sehr genoss.

Danach war es für Sarah einfach nur noch langweilig. Ständig wollte sie die Wochenenden woanders verbringen, irgendwelche Leute besuchen oder für mehrere Tage "Urlaub" machen. Die Langeweile wurde durch meinen neuen Lebensgefährten, mit dem sie sich sehr gut versteht, für eine Weile unterbrochen. Obwohl wir sehr viel zusammen unternommen haben und es Zuhause wieder lebhafter war, merkte man, dass sich etwas verändern musste. Das gab den entscheidenden Anstoß, nach einer geeigneten Wohn- und Lebensform für Sarah zu suchen.

Wir haben uns sehr viel Informationen beschafft und uns diverse Einrichtungen angesehen. Sarah ist sehr anspruchsvoll im kommunikativen Bereich sowie recht mobil, benötigt aber trotzdem sehr viel Hilfe in allen Bereichen. So war es nicht einfach, das passende zu finden. Da wir uns intensiv bemühten und alle möglichen Leute genervt haben, die uns in dieser Sache weiterhelfen konnten sowie jeden Fingerzeig und jede Information genutzt haben, wurde unser Bestreben innerhalb eines Jahres von Erfolg gekrönt.

Von einer Einrichtung, der dortigen Leitung und dem Betreuungspersonal hatten wir einen besonders guten Eindruck und das Glück, dass in Kürze ein Platz zur Verfügung stehen sollte. Als wir dann noch die Gruppe (11 Personen gemischten Alters, alle ziemlich fit) besucht hatten, wussten wir - das ist es! Sarah wäre am liebsten gleich dort geblieben. Das hat mir schon einen Schock versetzt. (Hatte sie es so schlecht bei mir??) Der Platz stand kurze Zeit später tatsächlich zur Verfügung und Sarahs Auszug wurde für Jan. 02 geplant. Nun wurde es ernst und ich bin fast in Panik geraten. Damit, dass alles so schnell gehen würde, hatte ich nicht wirklich gerechnet.

Dann haben wir uns gemeinsam mit Sarah an die Gestaltung und Einrichtung des Zimmer gemacht, das nach ihren Wünschen und Vorlieben ausgerichtet wurde. Das vorhandene Mobiliar musste auch noch durch einige Neuanschaffungen ergänzt werden. Sarah war mit viel Freude und gespannter Aufmerksamkeit dabei.

Bis dahin hatte ich immer gedacht, Sarah ganz sanft auf den Auszug vorbereiten zu müssen. Die tatsächliche Situation war aber so, dass sie dem Umzug förmlich entgegenfieberte. Das tat mir im Innersten doch schon sehr weh! Dieses "normale" Verhalten kannte ich zwar von ihrer Schwester, wollte oder konnte dies aber schlecht Sarah zugestehen.

Sarah lebt nun schon 5 Monate in ihrem neuen Zuhause. Sie hat sich dort vom ersten Tag an ausgesprochen wohl gefühlt und hat unglaubliche positive Entwicklungsschritte gemacht.

Ich bin mir sicher, dass meine Entscheidung, Sarah jetzt mit 23 Jahren loszulassen, absolut richtig war, denn ich habe ihr damit ermöglicht, sich in eine Gemeinschaft einzufügen, solange sie noch jung und anpassungsfähig ist. Ich denke auch, dass wir Eltern in der Verantwortung stehen, unsere Kinder deshalb auf diesen Schritt vorzubereiten, weil alles andere absolut egoistisch wäre.

Wir besuchen Sarah regelmäßig und manchmal verbringt sie auch einige Tage bei uns. Den Zeitpunkt dafür bestimmt Sarah überwiegend selbst.

Ich stehe im regelmäßigen Austausch mit der Gruppe und Sarahs Stammbetreuerin. Nach wie vor bin ich Sarahs gesetzliche Betreuerin und wache über alle wichtigen und unwichtigen Angelegenheiten, die meine Tochter betreffen.

Sarahs Mutter Martina (Juli 2002)

 

Alle Elternbriefe von Sarah