Alter zum Zeitpunkt des Briefes: 
3.0 Jahre

Unverwechselbar

„Arved ist unser Freudenspender“, sagt Andreas oft. Zu anderen, zu mir, zu sich selbst. Wie wahr! Dabei haben wir ja noch zwei von der Sorte, die großen Brüder Per und Ole. Die drei Burschen kosten uns einzeln und erst recht zusammen eine Menge Kraft, aber sie bereiten uns auch viel Spaß. Unverwechselbar, jeder auf seine Art. Von der ersten Sekunde an haben uns die Zwillinge gezeigt, dass sie unterschiedlich sind. Per, der „Große“, brüllte so laut er konnte, „Sternengucker“ Ole machte große Augen und schaute überall genau hin. Der eine hält theoretische Abhandlungen, der andere ist ungeheuer praktisch veranlagt. Sie sehen unterschiedlich aus, und sie sind es auch. Ganz klar - diese Kinder sind eigene Persönlichkeiten, die wir als Eltern nicht formen, wie wir uns das vorstellen.

Knapp zwei Jahre später wurde Arved geboren. Als er mit 51 cm Länge und 2.750 Gramm noch verschmiert auf meinem Bauch lag und mich anguckte, dachte ich - ein bisschen Per, ein bisschen Ole, und etwas ganz eigenes. Woran dieses „Eigene“ in seinem kleinen Gesicht lag, erfuhren wir zehn Tage später. „Ihr Kind ist körperlich und geistig schwer behindert“, erklärte mir der Oberarzt auf der Kinderstation, nachdem er mich gebeten hatte, erstmal mein frisch geliefertes Mittagessen bei Seite zu stellen. Was das bedeute? Das könne man nicht sagen, vielleicht könne er „beschult“ werden, vielleicht nicht... Dann musste er zum nächsten Gespräch und ich saß da allein auf meinem Bett, Arved im Arm. Andreas saß gerade in einem Flugzeug nach München, er rief dann auf meine Mailbox-Nachricht hin an und flog zurück nach Hamburg. Die erste, die mit mir weinte, war meine Schwester, und sie hat mir noch in diesem Telefonat von der Website des Vereins erzählt: „Lies das mal, das ist gut gemacht.“ Ich war ihr dankbar für diese Empfehlung.

Später saßen wir im Krankenhausfoyer vor dem Computer und guckten uns an, wie Arved werden würde. Ja, tatsächlich - ich dachte, Kinder mit dem gleichen Syndrom seien alle irgendwie gleich. Obwohl die Beiträge auch von der Freude berichteten, die Kinder mit dem Cri-du-chat-Syndrom ihren Familien bereiten, konnte ich erstmal nur Schwierigkeiten und Defizite wahrnehmen. Für mich war der Himmel erstmal grau und verhangen, meine Stimmung gedämpft, alle Erwartungen gen null gefahren: Spät laufen, nicht sprechen, schlecht essen, Verdauungsprobleme, sabbern.

Und so war es ja wohl auch: Arved trank nicht von der Brust. Abpumpen, Flasche geben, alles auskochen - meine ständige Beschäftigung in den ersten vier Wochen. Aber dank einer sehr einfühlsamen Stillberaterin im Krankenhaus („Denk an seine Mundmotorik!“) und weil ich von den Zwillingen her ja wusste, welche praktischen Vorteile eine immer gefüllte und wohl temperierte Brust hat, habe ich den kleinen Mann einfach immer wieder probieren lassen. Nach zwei Wochen nuckelte er ein wenig, nach einem Monat konnten wir Flaschen und Zubehör beiseite stellen! Er trank nicht so viel pro Mahlzeit, dafür etwa alle zwei Stunden, aber er trank. Na also.

Mit gut vier Monaten haben wir beobachtet, dass Arved sich seinen Schnuller in den Mund fingerte. „Guck mal“, sagte meine Mutter, „was er gerade geschafft hat!“. Nein, das konnte gar nicht sein - purer Zufall, war ich überzeugt! Diese Schnullerepisode ist eine Schlüsselszene, an der ich mein eigenes Zweifeln festmachen konnte. Trotz übergroßer Zärtlichkeit für meinen jüngsten Sohn, traute ich ihm zu diesem Zeitpunkt einfach noch keine Fähigkeiten zu. Doch das wurde anders, denn Arved ließ nicht locker. In seinem eigenen Tempo, zeigte er uns ständig, was er konnte, was er mochte, wen er mochte. Er guckte und lachte, versuchte und schaffte. Mit elf Monaten warf er sich bei Hoppe-Reiter nach hinten, begann sich hin und her zu rollen. Saß und krabbelte mit 16 Monaten, begann sich kurz später hochzuziehen und hangelte sich an den Möbeln entlang. Faszinierend seine Fähigkeit, das Bobbycar in einem Affenzahn millimetergenau zu steuern. Stehend unseren Schaukelstuhl zum Anschlag zu bringen. Arved macht uns allen Spaß, wenn er Bälle wirft und kickt, in allen Lagen die Rutschbahn meistert, beim Kinderturnen an den Ringen schwingt und einen bühnenreifen Abgang von der Matte hinlegt. Purzelbäume schlägt, die er sich von seinen Brüdern abgeguckt hat. Und über diese herfällt, um mit zu raufen. Mit zweieinhalb Jahren hatte er dann genug trainiert, um seine ersten freien Schritte zu gehen. Welche Freude!

Über den Satz mit der Beschulung lache ich jetzt. Und schüttele den Kopf. Was soll denn das für ein Kriterium sein, ein Kind daran zu messen, ob es „beschult“ werden kann oder nicht? Knapp drei Jahre Leben mit Arved haben uns bestätigt, was wir schon durch Ole und Per wussten: Jedes Kind ist unverwechselbar. Auch Zwillinge und Cri-du-chat-Kinder...

Arveds Mama Antje (März 2008)

Fotoalbum

Kleiner Mann was nun
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Und dann klappt es doch
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Start mit Kürbisbrei
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Arved isst jetzt selbst
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Küsschen für meine liebsten Geschwister Juli 2008
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Mit dem Onkel unterwegs
Bild Fri, 11/13/2009 - 22:11
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