Jasmin ist inzwischen 18 Jahre alt geworden. Bald ist die Teenagerzeit vorbei und wieder merke ich, wie die Behinderung mir im Laufe der Zeit andere Gesichter und Facetten zeigt: Manches ist jetzt leichter zu ertragen, anderes wiederum schwerer. Jasmin selbst scheint es blendend zu gehen, sie ist sehr fröhlich und aufgeweckt geblieben. Sie ist sehr dankbar für kleinste Aufmerksamkeiten, z.B. für einen neuen Ball oder einmal Schwimmen gehen. Sie geht gern auf andere zu.
Mit den Teeniejahren, seitdem sie ihre Tage bekam (mit etwa 15), ist sie auch viel ruhiger geworden und nicht mehr so superquirlig. Sie spielt auch gerne allein in ihrem Zimmer. Jasmin malt (kritzelt), schaut gerne Bilderbücher an (die holt sie alle gerne aus ihrem Regal) und hört auch gerne Musik (Kleinkind-Cassetten). Sie spielt nicht mehr ohne Warnung mit Wasserhähnen, Tischdecken und Pflanzen, sondern scheint inzwischen zu wissen, was sie nehmen darf und was nicht. #
Jasmin ging von Anfang an gerne in ihre Sonderschule und daran hat sich nichts geändert. Sie ist auch gesunder und robuster geworden. Dies ist alles eine große Erleichterung. Die Geschwisterkinder sind inzwischen auch älter (16,14 und 13) und können ab und an auch kurz auf sie aufpassen. Es reicht, wenn einer mit Jasmin im Haus ist. Diese Freiräume kamen erst in den letzten drei Jahren. Aber es gibt sie jetzt - zum Glück!
Denn ich merke, dass ich älter werde (jetzt 45), und die erste hingebungsvolle Zuwendung und Liebe, die am Anfang da war, ist bei mir jetzt öfters schnell verbraucht - obwohl die Belastung vielleicht insgesamt leichter ist im Vergleich zu den ersten sechs Jahren. Ich habe vor vier Jahren angefangen, wieder als Erzieherin zu arbeiten (18 Stunden), und die Arbeit macht viel Spaß. Arbeit ist aber mit Jasmin nicht immer leicht zu kombinieren, und das ärgert mich manchmal.
Ihr Bus kommt leider erst um 8.15 Uhr, und drei Mal in der Woche kommt sie schon um 13.30Uhr zurück. Ich muss Rücksicht auf sie nehmen, Lösungen finden, Arbeitszeiten nach ihr richten und so weiter. Das fällt mir bis heute oft schwer, mich nicht zu sehr zu ärgern. Warum kann es keine Ganztagsschulen (bis 15.30Uhr ) in der Nähe geben? Wieso gibt es keine Frühgruppen für die Muttis, die arbeiten? Und wieso gibt es keine gut bezahlbare Betreuung in den Sommerferien? Wenigstens für zwei Wochen? All diese Angebote sind da und selbstverständlich für normale Kinder, die in den Kindergarten oder in die Grundschule gehen!
Jasmin trägt seit zwei Jahren Hörgeräte. Erst spät wurde ihr Hörverlust erkannt. Mit acht Jahren gingen wir nach Marburg mit Verdacht auf Hörverlust, und hier wurde ein halber Tag getestet. Die Ärzte dachten, sie könnte hören (sie war so quirlig und zeigte gerne nach links und rechts). Daher wollten sie ihr nicht unnötig einen Test mit Narkose an tun. Erst ab 2005 hatten wir den Verdacht, dass Jasmin schlechter hörte. Sie drehte die Musik sehr laut auf und reagierte nicht, wenn sie von hinten angesprochen wurde. Lehrer meinten dann auch, sie würde vielleicht nicht hören.
Nach einem Test mit Narkose in 2007 hatten wir Sicherheit. Es besteht eine hochgradige Schwerhörigkeit auf beiden Ohren. Dass heißt, Jasmin hat vorher erst ab 70 dB gehört, also fast nichts! Das war ein Schock, aber erklärte auch, weshalb sie auf Bohrmaschinen oder vorbeifahrende Laster so panisch reagiert hat. Ich möchte allen Eltern Mut machen. Wenn ihr unklar seid, ob ein Hörverlust besteht: Macht einen Hörtest mit Narkose! Obwohl alle Operationen und Krankenhausbesuche Stress pur für unsere Kinder sind - Hören ist wichtig für das Sprechen. Wenn Schwerhörigkeit zu spät erkannt wird, bedeutet es Sprachverluste, denn das Gehirn kann nicht mehr alles verarbeiten.
Jasmin trug von Anfang an gerne die Hörgeräte und zum Glück zieht sie sie – anders als befürchtet – nicht oft von alleine raus. Ab und an muss ich suchen gehen, aber oft zeigt mir Jasmin, wo sie die Geräte hin gelegt hat, z.B. ins Blumenbeet oder in den Kleiderschrank. Das Sprechen ist leider so geblieben wie mit etwa sechs Jahren, also rund fünf Wörter: ja, Mama, Papa, Ente, Ball, Oma. Aber Jasmin reagiert schneller auf Gesprochenes und fängt an, die Zeichensprache zu benutzen.
Ein zweiter Schock war die Diagnose vom Orthopäden: Starke Hüftgelenksrotation. Jasmin lief von Anfang an mit den Füßen nach innen gedreht. In den letzten Jahren wurde es mit einem Bein besonders stark, und sie konnte nicht mehr als etwa 700 Meter laufen, ohne Pause zu machen und auf ihre Knie zu zeigen. Ein Arzt meinte, eine Operation sei unbedingt notwendig wegen des schlechten Röntgenbilds und könne in Dortmund gemacht werden. Oberschenkel und Hüftgelenk sollten absichtlich gebrochen werden, um später korrekt wieder zusammen zu wachsen! Wie sollte Jasmin so einen riesigen Eingriff verkraften? Gott sei Dank bekamen wir einen älteren und erfahrenen Arzt in Dortmund zu sprechen. Er meinte Jasmin mit ihrer Behinderung würde nach solch einer Operation sicher im Rollstuhl bleiben, da sie anschließend nicht die harte und konsequente Krankengymnastik verstehen und schaffen würde.
Sogar gesunde Erwachsene bleiben nach solch einem Eingriff manchmal im Rollstuhl! Solange Jasmin keine ganz starken Schmerzen hat, soll keine derartige Operation durchgeführt werden. Wir konnten aufatmen! Manche Patienten erleben keine starke Schmerzen, obwohl das Röntgenbild etwas anderes zu sagen scheint. Ich hoffe, dass Jasmin nie diesen Eingriff machen lassen muss. Es war toll, einen Arzt zu finden, der so ehrlich war, Jasmins Behinderung mit bedachte und auch etwas Erfahrung mit der Operation hatte. Orthopäde und Arzt im Kasseler Krankenhaus hatten gemeint, es müsste auf jeden Fall schnell operiert werden. In Kassel trauten sie sich allerdings nicht an die komplizierte Sache ran und schickten uns zu dem Spezialisten nach Dortmund. Bis jetzt werden jährlich Röntgenbilder von Jasmins Becken geschickt, um zu sehen, ob die Situation sich verschlechtert. Erst nach den Teenagerjahren, wenn die Knochen nicht mehr wachsen, werden überhaupt solche Eingriffe durchgeführt.
Für mich das Schwierigste im Moment ist anzunehmen, wie es sich mit der Sauberkeit verhält. Jasmin schafft es manchmal, bis 14 Uhr sauber zu bleiben und danach - Hiiilfe! Bei Kleinkindern ist das Wickeln mit Miniportionen schlimm genug, aber bei Teenagern... Hut ab vor allen, die in Altenheimen arbeiten! Wir versuchen, Jasmin jede Stunde aufs Klo zu setzen, und manchmal geht sie von alleine.
Stichwort Familie: Jasmin ist mit Teenager-Geschwistern anders integriert als in der Kleinkindzeit. Als alle klein waren, spielten sie miteinander, und Jasmin war oft mitten drin. Jetzt, mit drei Gymnasiumskindern in der Pubertät, sieht es anders aus. Ich weiß nicht, wie hart es Jasmin empfunden hat, drei Mal in der Entwicklung "überholt" zu werden. Manchmal, bei Brettspielen oder Kartenspielen macht sie ein trauriges Gesicht oder geht in ihr Zimmer. Aber dies ist selten. Meistens lacht sie und schaut alle an. Jedes Kind hat sein eigenes Zimmer und von Anfang an durften die Geschwister bestimmen, ob oder wann Jasmin in ihr Zimmer gehen darf. Ab und an passen sie auf Jasmin auf, aber Aufpassen bedeutet nur, im gleichen Haus zu sein.
Es war mir sehr wichtig, dass die "gesunden" Kinder nicht gezwungen wurden, auf Jasmin aufzupassen. Alle gehen rücksichtsvoll und liebevoll mit ihr um. Einmal dieses Jahr waren alle drei bereit, zusammen einen ganzen Tag auf Jasmin aufzupassen! Von neun Uhr morgens bis neuen Uhr abends! Ich kochte vor, alle Aufgaben wurden besprochen und aufgeteilt. Ein Nachbar war auch telefonisch für "Notfälle" bereit. Es klappte gut, und wir als Ehepaar hatten endlich einen Tag für uns!!! Vielleicht können wir das in einem halben Jahr noch mal versuchen.
Es ist nicht einfach festzustellen, was gut ist für alle und wo die Kinder mit Jasmin helfen können. Es ist auch schwierig, als Familie gemeinsam etwas zu unternehmen. Oft müssen wir uns in zwei Gruppen teilen: In die "Aktiven" und die, die mit Jasmin zusammen sind.
Manchmal ist es ganz angenehm, eine kleine Pause oder eine erholsame Unternehmung mit ihr zu machen, zum Beispiel einen Spaziergang. Aber manchmal ist es auch schade, dass wir nicht alle zusammen das gleiche machen können. Ihr Papa ist zum Glück sehr fit, und so schaffen wir es ab und an, eine Fahrradtour zu machen - Jasmin hat ein Tandem.
Jetzt, wo die Geschwisterkinder älter werden, wollen sie oft eher alleine oder mit Freunden sein, da fällt die Trennung nicht mehr so auf wie in der Grundschulzeit. Aber bei uns steht eines fest: Mag auch oft ein Geschwisterkind oder ein Elternteil mal laut, bockig, faul oder schlechtgelaunt sein: Jasmin ist (fast) immer gut drauf! Da kann ich eine Menge von ihr lernen...
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