Stünden wir noch einmal vor der Entscheidung, mit Clara nach Ägypten zu gehen, würden wir es wieder tun. Besonders am Anfang waren wir zwar sehr unsicher und hatten Bedenken, ob sie sich unter den Umständen in Ägypten so gut wie in Deutschland entwickeln würde. Und es gab durchaus Zeiten, wo wir auf der Kippe standen und dachten, jetzt müssten wir doch die Koffer packen und zurück gehen.
Doch je länger wir in dem anfangs fremden Land waren, desto besser kannten wir uns aus, beherrschten die Sprache, hatten soziale Kontakte. Und es ging ja auch nicht nur um Clara – es ging ja um uns alle, um alle Familienmitglieder. Als Claras Geschwister 14 und 12 Jahre alt waren, erschien es uns als der geeignete Zeitpunkt für eine Rückkehr.
Nach acht Jahren am Evangelischen Missionskrankenhaus in Assuan kehrten wir in 2008 nach Deutschland zurück. Wir hatten damals auch den Eindruck, dass es Clara gut tun würde, mal nicht immer nur der Mittelpunkt einer Einzelförderung zu sein, wie sie es in Ägypten erlebt hat. Wir fanden, sie sollte in einer Einrichtung von Fachleuten betreut werden und lernen, sich nach einer Gruppe zu richten.
Während unserer Zeit im Ausland gab es regelmäßige, jährliche Gespräche mit unserem betreuenden Arzt in Deutschland, und seine Meinung war uns wichtig. Sehr dankbar bin ich auch für den ermutigenden Austausch mit einer Familie vom Förderverein per Internet, die den Stellenwert der Familie für die Entwicklung immer sehr betont habt.
Ja, wie sieht es in Ägypten aus bezüglich der Förderung? Unser persönlicher Eindruck bezieht sich auf den Süden Ägyptens. Es gibt ein Nord-Süd-Gefälle. In Kairo und Alexandria gibt es durchaus Einrichtungen, die mit unseren vergleichbar sind (allerdings muss man die selbst bezahlen, und das ist teilweise sehr teuer). Susanne Mubarak hat für Behinderte einiges angestoßen, viele christliche Kirchen und die Caritas sind sehr aktiv und bieten auch kostenlose Hilfe an. Oft mangelt es aber an der Ausbildung der Mitarbeiter.
Die ägyptische Gesellschaft ist keine individualistische, sondern denkt in familiären Bezügen. Die Tendenz ist, dass der/die begabte Sohn/Tochter gefördert wird. Diesem Kind wird das teure Studium bezahlt, damit er oder sie es zu etwas bringen kann, was dann wiederum der Familie nützt. Warum sollte man also in behinderte Kinder Geld und Zeit investieren, wenn es keine Heilungschancen gibt?
Nur so können wir es uns erklären, dass viele Ärzte die Eltern nicht wirklich darüber aufklären, was mit ihren Kindern los ist. Es werden dann teure, Hirn stimulierende Medikamente verschrieben oder Operationen angeordnet, die völlig sinnlos sind. Auch volkstümliche, okkulte Praktiken, die manchmal sehr schmerzhaft sind, werden am Kind ausprobiert - genährt von der Hoffnung, doch noch „das“ Mittel zu finden, dass das Kind heilt. Sehr oft wurden wir gefragt, ob es nicht in Deutschland bessere Heilungschancen gebe.
Obwohl sie es an Clara erleben konnten, war es für viele Eltern schwer zu akzeptieren, dass es keine Wunder zu erwarten gibt, wohl aber Fortschritte durch Förderung. Auch hat es sich herumgesprochen, dass Krankengymnastik wichtig sei für ein behindertes Kind. In Ägypten sind die Therapeuten "Doktoren" mit einer besonderen Ausbildung. In der Praxis unterschied diese sich aber von dem, was wir uns wünschten.
Nach Berichten von Eltern, werden die Kinder etwa fünf Minuten hektisch „durchbewegt“, manchmal unter Schmerzensgeschrei. Viele Eltern denken, was hilft, muss auch weh tun! Auch diese "Therapie" muss selbst bezahlt werden. An Hilfsmittel mangelte es ebenso. Angepasste Rollstühle für Kinder gab es gar nicht, ebenso wenig jemanden, der uns eine gescheite Orthese anfertigen konnte. Auch diese haben wir aus Deutschland mitgebracht. Die Mütter und Väter, die ihre Kinder zu uns brachten, mussten sie oft kilometerweit tragen oder sich mit ihnen in öffentliche Verkehrsmittel (Minibusse) quetschen. Und das alles bei saftigen Temperaturen von im Sommer 45 Grad im Schatten!
Als wir mit Clara, neun Monate alt, eine Einrichtung für behinderte Kinder aufsuchten und nach Frühförderung fragten, schaute uns der Leiter verständnislos an. Dort wurden Kinder erst ab vier Jahren aufgenommen, vorausgesetzt, sie gingen auf die Toilette und konnten alleine essen. Die große und gut ausgestattete krankengymnastische Abteilung war verwaist. Nur ein Mädchen war an einem Gerät angeschlossen, das elektrische Impulse in ihren Arm sandte.
Wir haben nichts von diesen Angeboten wahrnehmen wollen, sondern die Therapie für Clara selbst organisiert. Zunächst wurde ich in Deutschland von einer Vojta-Therapeutin angeleitet, dann nach Bobath. Wir hatten auch verschiedene Therapeuten in Assuan zu Besuch, die privat bei uns wohnten - ein echter Luxus, durch den Clara immer wieder "Intensivkuren" genossen hat.
Was aber die Therapieangebote zu wünschen übrig ließen, wurde durch das Leben im Alltag umso mehr ausgeglichen. Kinder – besonders blonde Kinder – sind immer willkommen und werden geliebt. So ist Clara in einem Klima der Annahme groß geworden. Als sie noch ein Baby war, haben wir viele (nicht ganz ernst gemeinte) Heiratsabsichten zu hören bekommen. Als sie älter und die Behinderung offensichtlicher wurde, gab es viel Mitgefühl und Anteilnahme. Die Geduld der Menschen war groß, und auch wenn Clara ihnen an den Haaren zog oder sie kniff, wurde gelacht. Ihre Annäherungsversuche wurden fast immer freundlich erwidert.
Sie gehörte einfach dazu. Bedingt durch unsere Wohnsituation in einem „Compound“ (einer Art Lebensgemeinschaft) und vielen Kindern um uns herum, hatte Clara immer wieder Anreize und Gesellschaft. Auch wenn sie beim Spielen oft nur in ihrem Laufstall daneben saß, weil sie sonst alles kaputtgemacht hätte. Das warme Wetter hat auch manches erleichtert. Die vielen Kleidungsschichten, die man hier in Deutschland fast das ganze Jahr über braucht, finde ich sehr anstrengend.
Natürlich haben es nicht alle Behinderten in Ägypten so leicht wie Clara. Manche werden immer noch zu Hause eingesperrt oder versteckt gehalten, weil die Eltern und insbesondere die Mütter überfordert sind und es nicht wagen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Bildungsstand ist allgemein gering, viele sind Analphabeten. Hier haben wir versucht, Aufklärungsarbeit zu leisten und unsere Erfahrungen weiterzugeben.
Dass zur Zeit ein Therapeut aus Deutschland in Assuan tätig ist, freut uns sehr. Und nun sind wir fast zwei Jahre schon wieder in Deutschland. Wir leben jetzt in Hankensbüttel im Kreis Gifhorn in der Lüneburger Heide. Dass Clara in die Lebenshilfe geht, jeden Tag abgeholt und wieder nach Hause gebracht wird, dass dort ausgebildete Mitarbeiter sind, für die das Wohl der Kinder im Vordergrund steht, das alles empfinden wir wirklich als Privileg, das auch noch kostenlos ist!
Dadurch, dass wir in der kurzen Zeit, die wir jedes Jahr in Deutschland waren, viele verschiedene Therapeuten ausprobiert haben, sind wir was Therapien angeht, gelassen. Wir setzen uns nicht unter Druck und denken, dies oder jenes könnte noch alles „rausreißen“. Wichtig ist, dass die Kinder entsprechend ihrer Bedürfnisse versorgt sind, und dazu gehören insbesondere gute Beziehungen. Wir finden es schade, dass in vielen Einrichtungen Personal abgebaut wird, dafür aber die Räume renoviert oder Geräte angeschafft werden. Wenn wir etwas aus der Zeit in Ägypten gelernt haben, dann, dass der liebevolle Umgang, Zeit und Geduld für die Kinder sehr wichtig sind. Vielleicht wichtiger als das perfekte Förderprogramm.
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