Caroline ist mittlerweile 16 Jahre alt und hat zwei Geschwister im Alter von 14 und 11 Jahren. Sie besucht eine Förderschule für körperlich und motorisch beeinträchtigte Kinder und lebt bei uns zu Hause. Seit zwei Jahren geht sie regelmäßig in die Kurzzeitpflegeeinrichtung Villa Dorothee. Vor drei Jahren haben sich ihr Vater und ich getrennt, was für uns alle eine große Herausforderung war. Doch Caroline hat sich erstaunlich gut und schnell an die neue Situation gewöhnt. Sie verbringt regelmäßig Zeit mit ihrem Papa und versteht sich gut mit meinem Freund.
Mit 12 Jahren hat Caroline eine leichte Form der Epilepsie entwickelt, die medikamentös behandelt wurde. Sie ist seitdem anfallsfrei, und konnte vor zwei Jahren die Medikamente absetzen. Anfang diesen Jahres wurden, bedingt durch ihre Herzfehler, Herzrhythmusstörungen festgestellt. Seit Caroline Betablocker einnimmt, hat sich der Befund deutlich verbessert.
Mein Blick auf das Leben mit Caroline könnte nicht widersprüchlicher sein. Manchmal tun mir Menschen leid, die keine Caroline haben. In anderen Situationen bin ich furchtbar neidisch auf sie.
Mich frustrieren besonders die vielen Stunden, in denen ich mich mit meiner Krankenkasse, meiner Beihilfestelle, Gutachtern und dem Sozialamt beschäftige. Ich bin unfreiwillige Expertin für Investitionskosten, zusätzliche Betreuungsleistungen, Pflegegeld, Pflegeverhinderungshilfe, Kurzzeitpflegebudget, Eingliederungshilfe und Pflegezuschlag. Ich hätte so viel Besseres zu tun! Hinzu kommen die vielen Termine bei Ärzten und Therapeuten. Es kostet mich zunehmend Kraft, Carolines Windeln zu wechseln, sie zu duschen, sie beim Essen zu unterstützen, ihr Chaos aufzuräumen, hinter ihr her zu putzen und die Wäscheberge, die sie produziert, zu waschen. Meinem Ziel, all das möglichst gelassen und entspannt zu tun, werde ich längst nicht immer gerecht. Besonders während der Mahlzeiten fordert Caroline viel Aufmerksamkeit von mir. Sie tippt mir ständig auf die Schulter, erzählt mir Witze und stellt immer wieder dieselben Fragen. Sie wirft Gläser um oder hustet das ganze Essen quer über den Tisch. Es kostet viel Energie, mich dennoch auf ein Gespräch mit einem anderen Familienmitglied zu konzentrieren. Caroline kann sehr hartnäckig sein, wenn sie etwas möchte. Wenn man ihr einen Wunsch abschlagen möchte oder etwas verbieten will, muss man genau abwägen, ob die Situation konsequentes Verhalten zulässt. Denn wenn Caroline in der Öffentlichkeit wütend am Boden liegt und schreit, ist das eine sehr belastende Situation für alle Beteiligten. Caroline hat häufig Atemwegsinfekte. Wenn Caroline morgens mit Fieber wach wird, muss ich spontan eine Betreuung organisieren, damit ich arbeiten kann. Ich kann oft sehr schwer einschätzen, wann sie wieder fit genug ist, in die Schule zu gehen, zumal Caroline morgens sehr schläfrig ist. Caroline hat die Gabe, ohnehin stressige Situationen noch stressiger zu machen. Sie reagiert hilflos und aggressiv auf angespannte Situationen. Mit Caroline weiß man nie, was als Nächstes passiert. Sie braucht in den ungünstigsten Momenten eine neue Windel oder setzt das Badezimmer und die Küche unter Wasser. Um diese unplanbaren Zeitfresser irgendwie unter Kontrolle zu bekommen, versuche ich, meine privaten und beruflichen Pflichten so schnell und effektiv wie möglich abzuarbeiten. Diese Geschwindigkeit strengt mich, und vermutlich auch mein Umfeld, ziemlich an. Dazu kommen die Herausforderungen, die das Leben mit gesunden heranwachsenden Kindern ohnehin bereithält. Wenn es nach einem langen Tag zu einem Konflikt mit einem meiner anderen Kinder kommt und Caroline darauf mit Aggression und Zerstörungswut reagiert, fühle ich mich hilflos und am Rande meiner Kräfte. Ich empfinde Caroline in solchen Momenten als Belastung für mich, ihre Geschwister und ihr ganzes Umfeld.
Aber es gibt auch Momente, in denen ich denke, dass es mehr Menschen wie Caroline geben sollte. Am meisten mag ich an ihr, dass sie so lustig ist. Ihr ansteckender Humor und ihr Sinn für Wortwitz bringen mich oft zum Lachen und lassen mich alle Anstrengungen vergessen. Sie ist ein sehr soziales Wesen und spürt, wenn es anderen Menschen nicht gut geht. Manchmal nimmt sie mich genau in dem Moment in den Arm, wenn ich es am meisten brauche. Außerdem ist Caroline gut fürs Ego. Sie bejubelt jeden kleinen und großen Erfolg ihrer Mitmenschen ohne Neid. Sie lacht von Herzen über alle Scherze, egal wie gelungen diese sind. Sie liebt ihre Geschwister, ihren Vetter, ihre Cousinen und Verwandten und überschüttet sie mit Liebe und Komplimenten. Caroline begeistert sich für Vulkane, Geysire, den Weltraum, Musik, Querflöten, Aufführungen, Flashmobs und Witze. Ihre Begeisterung ist ehrlich und ansteckend. Es macht mir Freude, ihr zuzusehen, wenn sie etwas ganz und gar tut. Viele Situationen, die sie erlebt, spielt sie in Rollenspielen nach und verwandelt sich dabei sehr konsequent in andere Personen oder Tiere. Sie versteht sich darin, ihre Mitmenschen charmant um den Finger zu wickeln. Ihre offene und ehrliche Liebe kann wahre Wunder bewirken und gibt mir und anderen Menschen eine Menge Kraft. In solchen Momenten bin ich stolz darauf, dass Caroline meine Tochter ist. Ich erlebe sie dann als echte Bereicherung für mich und ihr ganzes Umfeld.
Ich bin sehr dankbar für die Selbstverständlichkeit, mit der meine Eltern und Schwestern mit ihren Familien uns unterstützen. Sie helfen uns nicht nur mit praktischen Dingen, sondern auch mit ihrer Liebe und ihrem Verständnis. Sie nehmen Caroline an, wie sie ist, und zeigen uns, dass wir nicht allein sind. Ohne sie würde unser Leben nicht funktionieren.
Jedes Jahr am 6. September denke ich daran, wie ich die Diagnose für Caroline bekam. Die Ärztin sagte mir, dass Caroline das Cri du Chat Syndrom hat, eine seltene genetische Störung, die ihr Leben stark beeinträchtigen würde. Sie sagte mir auch, dass Caroline später sagen können würde: “Mama, ich hab dich lieb.” Das klang damals wie ein schwacher Trost für all die Dinge, die sie nicht tun oder lernen würde.
Heute kann ich sehen, was für ein Glück es ist, dass Caroline sagen kann: “Mama, ich hab dich lieb.” Sie sagt es nicht nur mit Worten, sondern auch mit Gesten, Blicken und Umarmungen. Sie sagt es zu mir, zu ihrem Papa, zu ihren Geschwistern, zu ihren Verwandten und zu allen Menschen, die sie liebt. Sie sagt es mit einer solchen Aufrichtigkeit, dass man sie einfach zurücklieben muss.
Alle Elternbriefe von Caroline