In Karolinas ersten beiden Lebensjahren war ihre Ernährung das Hauptproblem. Heute kommt man mit Essbarem nicht an Karolina vorbei, ohne dass sie probieren will. Dafür wird jetzt die Erziehung problematisch. Verstehen kann das niemand so recht. Wie oft höre ich von Verwandten und Bekannten, dass Karolina ja so ein liebes Mädchen ist. Natürlich sieht sie zuckersüß aus mit ihrem blonden Zöpfchen und ist herzallerliebst, wenn sie Bekannte und Verwandte an sich drückt oder gar küsst, als würde sie zu Hause niemals Schmuseeinheiten bekommen. Wenn ich als Mutter nach einem Kuss frage, rückt sie den nur in äußerst seltenen Fällen raus - in der (meist berechtigten) Hoffnung, er werde mit etwas Lustigem belohnt. Dabei reiße ich mir täglich ein bis zwei Beine aus, um mein besonderes Kind zur Selbstständigkeit zu erziehen, es zu unterhalten und zu pflegen.
Da finde ich es manchmal gar nicht so schön, anzusehen wenn sie andere küsst und muss mir ganz bewusst sagen: Das macht sie ja nicht extra, sie ist ja behindert.
Dass Karolina zu Hause beißt und kneift und ein richtiger Stinkstiefel sein kann, traut ihr niemand so recht zu. Im schlimmsten Fall sagen die anderen: "Das hat mein Kind einmal gemacht, da habe ich zurück gebissen, dann tat es das nie wieder." Ha, ha. Als hätte ich nicht auch schon zurück gekniffen – aber Karolina ist eben anders. Schimpfen hilft nicht, "Nein" sagen auch nicht, ebenso wenig, wenn jemand anfängt zu weinen oder sie weg gesetzt wird. Sie ist nämlich so clever, dass sie einen verfolgt und dann wieder kneift. Vielleicht weiß sie: Mit Mama kann ich’s ja machen, die hat mich trotzdem lieb.
Eine Zeit lang habe ich mir das von ihr bieten lassen - bis ich so eine Wut darüber hatte, dass mich ein Kleinkind so behandelt. So ein Verhalten würde ich mir von niemandem sonst bieten lassen! So habe ich im Kindergarten Rat gesucht, denn ich dachte, die müssten es dort ja am ehesten wissen, weil sie den ganzen Tag mit behinderten Kleinkindern zu tun haben. Jetzt muss Karolina Konsequenzen tragen, wenn sie gemein ist und eine erste Verwarnung mit deutlichem "Nein" ignoriert. Dann kommt sie nämlich ohne viele Worte in den leeren Laufstall, wo sie ignoriert wird, bis ich denke, dass sie sich beruhigt hat. Wenn sie dann lieb ist, belohne ich das, indem ich ihr besonders viel Zuwendung gebe und mit ihr spiele. Damit sie begreift, dass nur gutes Verhalten belohnt wird. Sicher ist das anstrengend, aber mittlerweile gibt es Situationen, in denen Karolina bei einem „Nein“ wirklich aufhört. Beim ersten Mal war ich sehr verwundert, dass sie nicht noch mal gekniffen hat und dachte an Zufall. Wie immer wenn sich etwas neues anbahnt - zuerst sieht immer alles nach Zufall aus.
Schwieriger ist es bei der Busfahrt vom Kindergarten. Karolina sitzt zwischen zwei Kindern, von denen sie das eine besonders stark kneift. Und hier wird auch deutlich warum, denn schon bevor ein Kontakt zustande kommt, schreit das Mädchen: "Die Karolina will mich petzen!" Das gefällt Karolina, sie hat eine Reaktion verursacht! Ganz ehrlich, genau das soll sie ja auch lernen - nur eben in anderen Situationen und mit anderen Reaktionen. Aber unter diesem Gesichtspunkt kann ich sie sogar verstehen.
Besonders reizvoll findet sie es auch, Brillen herunter zu reißen. Im Kindergarten revanchiert sich ein Junge ihrer Gruppe, indem er Karolina dann auch die Brille abreißt. Dann hebt sie ganz entrüstet den Finger und macht "Oh weh". Aha, sie kapiert also, worum es geht. Ihre Uroma dagegen legt dann ihre Brille beiseite mit dem Argument: "Karolina möchte nicht, dass ich eine Brille trage." In diesem Fall muss wohl zuerst die Uroma erzogen werden... Ich zumindest bin der Meinung, dass nicht Karolina zu bestimmen hat, wer eine Brille trägt. Da scheint mir ihre Uroma etwas zuviel Mitleid mit dem kleinen süßen Mädchen zu haben...
Gestern hat Karolina gleich zwei Mal in meinen Blumentöpfen mit Salatsamen gewühlt, Erde auf dem Sofa verstreut und gegessen. Da hatte ich überhaupt kein Mitleid mit ihr und dachte, dass auch in solchen Situationen künftig die Konsequenz Laufstall folgen muss. Mein spontanes Geschimpfe hat sie nicht so beeindruckt.
Aktuell ist auch, dass Karolina alles vom Tisch auf den Boden schmeißt. Es ist kein Heb-auf-Spiel. Was sie nicht mehr will, fliegt auf den Boden, egal was. Sie macht das extra, und es stinkt mir mittlerweile so, dass ich eben deswegen heute wieder im Kindergarten nach erzieherischen Tipps gefragt habe. Aber wer glaubt, hierfür gebe es eine einfache Lösung, irrt natürlich. Ich soll Karolina alles selbst aufheben lassen! Keine kleine Aufgabe in Anbetracht der Tatsache, dass sie nicht läuft, geschweige denn alleine von einem Hochstuhl runter und auf denselben wieder rauf kommt... Selbst aufheben lassen bedeutet also, ich muss Karolina abschnallen, runter heben, mit ihr zu dem vom Tisch gefegten Gegenstand gehen, mich zusammen mit ihr zur Erde bücken, sie das Teil aufheben lassen,... Ja, eben einfach alles mit ihr machen, bis sie wieder im Hochstuhl sitzt, den Gegenstand auf den Tisch gelegt und von sich weg geschoben hat. Das hört sich nicht nur ziemlich anstrengend an, sondern ist es auch. Aber ich nehme das in Kauf, in der (hoffentlich berechtigten) Hoffnung, mich irgendwann einmal nicht mehr nach allem bücken zu müssen, was Karolina um den Tisch verteilt hat. Denn im Urlaub ist es besonders unangenehm, wenn mein Kleinkind in einem Hotel anderen Gästen und dem Personal Gegenstände vor die Füße schmeißt. Auch ist das nicht so lustig, sich ständig hinter dem Kinderwagen bücken zu müssen, weil irgendwas rausgefeuert wurde.### Natürlich höre auch ich gerne, dass ich ein liebes Kind habe. Aber manchmal würde ich lieber antworten, dass Karolina mich oft nervt und es mir gewaltig stinkt, alles tausend Mal zu sagen - ohne Erfolg. Ja- es nervt mich, dass Karolina kaum spricht oder sich nichts wünschen kann. Dass ich in Karolinas Gegenwart selten etwas tun kann, weil sie ständig meine Aufmerksamkeit will. Es nervt, dass der Versuch biometrische Passfotos machen zu lassen mit Kratzen und Beißen endet, und vor allem damit, dass die Fotos dann doch nicht biometrisch sind, weil Karolina den Mund nicht zulassen kann. Es nervt, dass ich ihre festgekrallten Finger aus meinen Haaren klauben muss, weil sie übertrieben Angst hat, wenn ein Tier sie angeschaut oder sich bewegt hat oder ein Flugzeug vorbei fliegt. Und es nervt, dass sie einfach nicht kapiert, dass man Sand nicht isst und man nicht alles haben kann. Es nervt, dauernd die Töpfe wieder in ihre Schublade räumen zu müssen, Zeitungspapier aufzusammeln, den versabberten Wohnzimmertisch und Fernseher abzuwischen, Hörgeräte zu suchen, die weggeworfen wurden, alles immer wieder aufzuheben, in aller Frühe das Bett zu verlassen, weil sie sich aus dem Schlafsack geschält hat, friert und nicht mehr schlafen kann und will. Es nervt, ihre Kleider zu waschen, in deren Ärmel sich Karolina morgens direkt nach dem Anziehen mit dem Mund voller Haferflocken gebissen hat, oder meine Kleider, an denen sie ihr Gesicht abgewischt hat. Es nervt, nicht genau zu wissen, ob sie sich in Krankheitsfällen wohl genug fühlt um in den Kindergarten zu gehen, dass schwer Kleidung zu finden ist, die schmal genug geschnitten ist, dass sie gut passt. Es nervt, immer noch Windeln besorgen zu müssen und zu wickeln und vor allem nervt der Gedanke daran, dass das alles so schnell kein Ende nehmen wird und Hilfe nicht immer leicht zu bekommen ist. Manchmal nervt es auch einfach, dass andere ein scheinbar so viel unkompliziertes Leben leben und das Glück gesunder Kinder haben. Auch wenn das vielleicht ungerechte Gedanken sind.
Eine Zeit lang habe ich es gar nicht in Betracht gezogen, darüber überhaupt zu sprechen, bis mir die Idee kam, dass es anderen Müttern vielleicht ebenso gehen könnte. Dafür habe ich im Kindergarten offene Ohren gefunden. Wir haben einen Elterngesprächskreis ins Leben gerufen, der regelmäßig in größeren Abständen stattfindet und erstaunlich gut besucht wird. Manchmal tut es gut zu hören, wenn eine andere Mutter gesteht, dass sie abends heulend auf dem Sofa saß oder ihr Kind angeschrieen hat. Kürzlich sagte eine Mama in diesem Kreis: "Und ich dachte, ich hätte Probleme mit der Erziehung meines Kindes, aber ihr habt es ja auch nicht leicht. Und ihr macht das alle richtig gut!"
Und dann gibt es Situationen wie diese: Da sitzt Karolina zu Hause und küsst ganz unvermittelt mein Bein. Ich denke erfreut und gar nicht genervt: Was war das denn? Und frage mich was in diesem kleinen Menschen vorgehen mag. Da macht Karolina etwas mit den Händen, und ich denke: Das ist doch die Geste für Buch! Und ich bin gar nicht genervt, sondern freue mich unheimlich, dass sie das kann. Da summt meine Tochter eine Melodie, und ich erkenne darin ein Lied, dass sie vorher noch nicht gesungen hat. Und ich bin überhaupt nicht genervt, sondern fasziniert davon, dass sie sich das scheinbar selbst beigebracht hat. Oder mein Kind pustet, und ich weiß, dass ich ihr Seifenblasen machen soll. Na klar, mache ich ihr die! Oder ich frage, ob sie eine Gute-Nacht-Geschichte will, und sie flippt aus vor Freude... Oder sie krabbelt zum ersten Mal zur Terrassentür raus oder sieht im Fernsehen ein Zeichentrickschwein, hält sich die Nase zu und grunzt... Wie unheimlich stolz bin ich dann auf sie - und so glücklich, dass es sie gibt!
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