Alter zum Zeitpunkt des Briefes: 
5.0 Jahre

Dieses Jahr MUSSTE ich mit meinen Eltern in Urlaub fahren. Ferien und Urlaub sind ja nicht so mein Ding. Ich habe lieber mein gewohntes Umfeld und gehe gerne in den Kindergarten, am liebsten jeden Tag. Nach einer Woche Osterferien küsse ich schon meine Erzieherinnen, wenn sie mich dann endlich wieder morgens aus dem Bus holen.

Mama wäre ja auch lieber ohne mich gefahren. Sie sagt, der Erholungsfaktor wäre da größer. Aber Papa wollte ohne mich nicht, also musste ich mit nach Schottland.

Mama hat sich vorher große Gedanken gemacht, was sie für mich alles mitnehmen soll, also hatte ich meinen eigenen Koffer inklusive Essen. Papa hat vorher schon geschimpft, wir sollten nicht so viel mitschleppen, schließlich hätten die Schotten ja auch Kinder und man könne dort sicher was kaufen.

Und Mama hat sich auch gefragt, wie die Leute dort wohl auf mich reagieren, denn nicht jedes Land ist sehr behindertenfreundlich und unser Reiseführer hat sich dazu wenig aussagekräftig geäußert.

Mit dem Flugzeug sind wir geflogen. Das Fliegen war gar nicht so verkehrt, denn ich hatte meinen Kassettenrekorder und ein paar Spielsachen dabei, nur die Dame im Sitz vor mir hat sich beklagt, weil ich dauernd gegen ihren Sitz getreten habe.

Wir haben übrigens eine Autorundreise gemacht. Da ich nicht so gerne ewig im Auto hocke, hat uns das Reisebüro eine Individualreise gebucht und die Fahrten dauerten nie so lang. Wir hatten auch nicht jede Nacht eine andere Unterkunft, was mir ganz recht war. Durch die neuen Eindrücke war ich aber abends so müde - und mittags schlafe ich nicht gerne ohne mein gewohntes Umfeld - dass meine Eltern mich in mein Bett legen und danach im Restaurant unbesorgt was essen konnten. Ich hatte immer ein Beistellbett oder Sofa, und darauf konnte ich gut schlafen, obwohl ich es zu Hause schon mal geschafft habe mich aus meinem Gitterbett zu stürzen.

Am Anfang waren wir in Edinburgh. Da Papa das mit dem Linksverkehr erst mal verinnerlichen musste, sind wir dort mit dem Bus gefahren. Die Mama war ganz begeistert, denn wir sind mit dem sperrigen Reha-Buggy in alle Busse problemlos hinein gekommen und Kinder kosten dort bis fünf Jahre nichts. Nicht nur in den Bussen nicht, sondern bei vielen anderen Sachen auch nicht. In Edinburgh war ein Kulturfestival, wo Künstler auf der Straße auftraten. Meine Eltern fanden das natürlich super, weil es sehr schön und lustig war, und auch ich hatte ein ganz nettes Erlebnis dort. Wir erblickten nämlich einen Jungen, der mit seiner Gitarre einsam an einer Mauer stand, spielte und dazu sang. Auf so was stehe ich ja total. Und Mama sagt auch, er hätte wirklich gut gesungen. Jedenfalls blieben wir stehen, damit ich zuhören und in meinem Buggy tanzen (also: vor- und zurück wippen) konnte. Der Junge, der 14 Jahre alt war, aber aussah wie zwölf, freute sich, dass ich sein Fan war und spielte dann extra für mich. Na, ich hab’ dann sogar mal geklatscht! Leider mussten wir dann gehen. Aber per Zufall trafen wir ihn später noch mal. Da hatte er seine Eltern dabei, hat mich aber trotzdem persönlich begrüßt. Und ich hatte noch mehr Glück, denn wir trafen ihn ein drittes Mal. Da hielt er uns sogar an, holte seine Gitarre hervor und spielte extra für mich noch ein Lied.

Was mir noch besonders gut gefallen hat, waren die Highland Games. Die sind im Sommer dauernd irgendwo in Schottland und finden auf großen, eingezäunten Wiese statt, wo in der Mitte Männer in Röcken rustikale Wettkämpfe veranstalten. Und um die Wettkämpfe drumherum gibt es dann eine Art Kirmes, Essenständchen und Stände mit Handwerkskunst. Ich durfte natürlich auf einem Karussell fahren und später noch auf die Hüpfburg. Aber das Beste war die Kapelle mit Drums and Pipes, die in regelmäßigen Abständen über den Platz marschiert ist. Zuerst habe ich mich über die Töne der Dudelsäcke fürchterlich erschrocken, aber dann merkte ich, dass da auch Trommler mitliefen und bin vor Begeisterung völlig ausgeflippt! Ich konnte es einfach nicht lassen. Nach dem Ende einer Darbietung bin ich zu einer auf dem Boden stehenden Trommel gekrabbelt und musste da mal draufhauen. Aber ich benahm mich einigermaßen und leckte sie zur Abwechslung mal nicht ab. Obwohl die Spieler der Kapelle bei ihrem Marsch ja todernst schauen, waren sie danach ganz nett und ließen mich mit der Trommel spielen. Auch sonst waren die Leute ziemlich zuvorkommend und ließen mich und Mama ohne Aufforderung vor, damit ich bei den Wettkämpfen zusehen konnte. Obwohl ich das gar nicht wollte.

Natürlich haben wir uns in Schottland viel angesehen, von dem mich das meiste nicht interessierte. Dann hab’ ich immer Theater gemacht und angefangen zu kratzen, die Hörgeräte wegzuschmeißen und zornig zu werden. Aber Mama meinte, da müsse ich durch und sie würde nicht ständig zu Hause oder im Hotel sitzen wollen, nur weil mir das am liebsten sei. Und ich müsse auch lernen, mit unangenehmen Situationen klar zu kommen. Ach, wie blöd! Überall haben die mich mit hin geschleppt, nur die Führung durch die Whisky-Distillerie, die durfte ich genau wie alle Kinder unter acht Jahren dann doch nicht mitmachen. Sonst hätten wir wegen des Dunstes wohl einen Schwips bekommen... Das hat Papa dann eben alleine mitgemacht, und Mama durfte sich zum Ausgleich in Edinburgh alleine eine unterirdische Führung ansehen. Einmal haben wir uns ein Gefängnis aus dem 19. Jahrhundert angesehen, wo ganz viele fast lebensechte Figuren drin waren. Den anderen Kindern hat das gut gefallen, nur mir nicht. Und weil ich zu allem Überfluss auch noch dauermüde war, habe ich halt wieder Theater gemacht. Bis wir in eine Zelle kamen, in der statt einer Puppe eine echte Insassin drin war - zu der durfte ich mich auf die Hängematte setzen, und sie hat mir was auf Englisch erzählt. Da war meine Welt wieder in Ordnung! Nur einmal habe ich blitzschnell versucht ihr die Haube vom Kopf zu reißen, denn ich kann das gar nicht haben, wenn jemand Kopfbedeckungen trägt.

Mit mir und dem Reha-Buggy durch Schottland zu kommen war übrigens ganz prima. Die haben nämlich ganz viele abgesenkte Bordsteine und vor fast allen Eingängen Rampen. Da wir unseren Parkausweis dabei hatten, konnten wir auch auf Behindertenparkplätzen parken. Die waren sogar frei und nicht wie in Deutschland oft von Unberechtigten zugeparkt. Mama hat sich sogar eingebildet, dass im Bus die ausgewiesenen Plätze für Kinderwagen, Behinderte oder ältere Menschen nicht unberechtigt besetzt wurden. Am besten fand Mama, dass es bis auf eine Ausnahme überall wo wir waren, mindestens eine Toilette für Rollstuhlfahrer gab. Zwar nicht so luxuriös wie in Deutschland, aber immerhin gab es welche. Und auf dieser war stets eine Wickelmöglichkeit bereitgestellt, so dass meine Windeln gar kein Problem waren.

Perfekt für mich waren auch die vielen Tearooms und Bistros in Schottland. Dort brauchten wir gar nicht viele Gläschen für mich zu wärmen zu lassen, denn es wurden überall Tagessuppen angeboten, teilweise als Kindermenü. Das ist ganz toll für so kaufaule Kinder wie mich. Geschmeckt hat es mir auch.

Einmal hatte ich während der Fahrt so einen Hunger, dass ich nur noch geheult habe. Da ist Papa in eine Gärtnerei gesprungen, und dort konnte doch tatsächlich mein Gläschen gewärmt werden, und es gab sogar Tee und Kuchen zu kaufen und eine Sitzmöglichkeit. Obwohl die Dame eigentlich gerade abschließen wollte, durfte ich dort erstmal in Ruhe essen. Und sie wollte nicht mal was dafür haben.

Mama glaubt übrigens, dass mir das schottische Klima gut getan hat, weil wir viel draußen waren und ich seit dem schon zwei mal nur mit mäßigem Schnupfen statt dicker Erkältung davongekommen bin. Außerdem hat es gar nicht so viel geregnet, wie man immer hört. Zwar schon öfter, aber nicht so sehr lange. Meistens waren wir dann eh’ gerade im Autofahren oder beim Essen, so dass wir nur ein Mal in zehn Tagen den Schirm brauchten.

Ja, es waren wirklich alle Leute sehr nett zu mir. Ich fasse ja gerne mal einfach fremde Leute an, aber die waren dann nicht so distanziert wie die Deutschen oder haben blöd geguckt, sondern sie haben sogar dann mit mir erzählt. Am Ende der Reise wusste ich dann, dass ich bei "bye-bye" winken muss.

Am Flughafen durfte ich mir auch ein ganz kleines Baby ansehen und Babys finde ich ja absolut toll! Dieses schlief gerade, was mich wegen der geschlossenen Augen stets noch mehr fasziniert. Mama hielt mir die Hände fest, damit ich nicht versuchen sollte, dem Baby die Augen aufzuklappen wie bei meiner Puppe. Aber ich habe die Wange an sein Köpfchen gelegt, "ei" gemacht und es geküsst. Die Mama von dem Baby fand das ganz niedlich von mir, fragte wie ich heiße und sagte immer "sweet Karolina". Zum Schluss habe ich dem Baby kurz über die Stirn geleckt, aber auch das fand seine Mama nicht dramatisch und hat einfach mit einem Tuch drübergewischt.

Wie schon gesagt, obwohl unser Reiseführer sehr neutral beim Thema Behinderten- und Kinderfreundlichkeit war, ja sogar schrieb, das Kinder nicht in jeder Gastronomie willkommen und erlaubt sind, haben wir NUR gute Erfahrungen gemacht und finden dass schottische Sehenswürdigkeiten oft sehr kindgerecht und die Schotten ganz nette und gastfreundliche Menschen sind. Deswegen wollen Mama und Papa ja auch wieder dahin. Und ich befürchte, dass ich da wieder mit muss...

Von Schottland-Touristin wider Willen, Karolina.

Fotoalbum

Ausflug in die Küche
Bild Thu, 11/12/2009 - 23:43
Hippotherapien heißt es, aber eigentlich ist das doch Reiten.
Bild Thu, 11/12/2009 - 23:44
Da hat mich wohl ein Paparazzo erwischt.
Bild Thu, 11/12/2009 - 23:45
Highland Games
Bild 06.01.2011 - 22:52
Im Museum (Inveraray Jail)
Bild 05.01.2011 - 23:35
Raemoir House Hotel
Bild 06.01.2011 - 22:56
Lochnagar
Bild 06.01.2011 - 22:58